Wie die Schuld der Ahnen unser Leben definieren kann

Die Taten der Vorfahren bestimmen unser Leben weitaus mehr, als wir uns vorstellen können. Aber es gibt einen Weg hinaus.
Die Schuld der Ahnen kann Nachgeborene schwer belasten

Die Taten der Vorfahren bestimmen unser Leben mehr, als wir uns vorstellen können! Aber es gibt einen Weg hinaus.

 

Die Geister im Kinderzimmer

Geister. So hat sie die amerikanische Psychoanalytikerin Selma Fraiberg genannt: Geister im Kinderzimmer. Gleich mit der Geburt sind sie da, die Eltern bringen sie herein. Wenn die Stimme der Mutter einen schrillen Ton bekommt, die Gesichtszüge des Vaters sich verhärten, Wut oder Not, Aggression oder Verzweiflung den Raum bestimmen – dann beginnt der Spuk der Geister. Und der Säugling, vollkommen ungeschützt in der emotionalen Atmosphäre seiner Eltern gefangen, nimmt sie in sich auf. Es ist eine Besetzung. Als Teil seiner Psyche werden sie ihn fortan begleiten, treu und hartnäckig, unbemerkt und genau deswegen so mächtig.

Als Menschen sind wir viel intensiver mit unseren Vorfahren verbunden, als uns bewusst ist. Abseits des Gen-Materials, das wir in uns tragen, entwickelt sich im Kontakt mit den Eltern die Psyche. Alles, was sie uns entgegenbringen, findet in uns Resonanz. Auch ihre unverarbeiteten, abgespaltenen Anteile. Die Geister.

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Die Taten der Vorfahren können heute unseren Lebensweg bestimmen

Sie definieren unser Leben oft mehr, als wir uns vorstellen können. „Die Konsequenzen einer belastenden Gesellschafts- und Familiengeschichte zeigen sich in der Enkelgeneration zum Teil noch deutlicher als in der Generation der Kinder“, schreibt Gabriele Rosenthal, Göttinger Professorin für Soziologie. „Eine lange vor der eigenen Geburt liegende Familiengeschichte kann noch heute die Lebenswege der Nachgeborenen erheblich bestimmen.“ Im Alten Testament klingt das so: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind davon die Zähne stumpf geworden.“

Die systematische Erforschung dieser sogenannten transgenerationalen Weitergabe begann, als die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden und die Nachkommen der Täterinnen und Täter in die Therapie von Psychoanalytikern und Tiefenpsychologen kamen. In den USA waren es zudem die Kinder der Vietnam­Veteranen, die mit Depressionen, unerklärlichen Schuldgefühlen oder Suizidgedanken therapeutische Hilfe suchten, berichtet die Sozialpsychologin und Gruppenanalytikerin Angela Moré, Professorin an der Universität Hannover. Die Not der Betroffenen: immer wieder erdrückend.„

Die Folgen für die Seele – nicht selten massiv

Bei Extremtraumatisierungen, wie sie insbesondere im Holocaust erfolgten, reicht ein Menschenleben oft nicht aus, um die psychischen Folgen zu verarbeiten“, sagt sie. „Ich kenne jüdische Menschen, deren Mutter immer eine Überlebende von Auschwitz bleibt, der Vater immer der, der sich im Gebirge verstecken musste. Das geht auf deren Kinder über, die sich ihr Leben lang damit auseinandersetzen.“ Nicht selten begleitet von massiven Folgen: Depressionen, Ängste, Autonomiekonflikte und Schuldgefühle gegenüber den Eltern.

Die Folgen bei den Nachkommen der Täter sind zum Teil ähnlich. Mögen diejenigen, die in KZs, in der SS oder in der NS-Bürokratie Verbrechen begingen, ihre Schuld abgewehrt haben und in ein aggressiv bewehrtes Schweigen verfallen sein, so entwickeln sich bei ihren Kindern und Enkeln Schuldgefühle, deren Ursache für sie rätselhaft bleibt. Ebenso für die sozialen, psychischen und gesundheitlichen Folgen: Depressionen, Selbstbestrafungen, das Gefühl, kein Anrecht auf ein gutes Leben zu haben, der Verzicht auf Liebesbeziehungen und eigene Kinder, Zwänge zu Buße und Sühne, Suchterkrankungen.

Ein kleines Kind nimmt alles auf, gerade das Verschwiegene

„Die Kriegskinder und Nachkriegskinder haben Eltern erlebt, in denen die Schrecken der Bombennächte oder der Flucht lebendig waren. Aber wenn der Vater Teil eines Erschießungskommandos gewesen oder dabei war, wenn eine Kompanie der Wehrmacht ein russisches Dorf niederbrannte – was hat das mit diesem Menschen gemacht? Der Schrecken über die eigene Unmenschlichkeit, zu der er gezwungen wurde oder sich verführen ließ, sie vielleicht sogar genoss – dieser Schrecken und das Gefühl, es unbedingt verbergen zu müssen, blieb in dieser Person und teilte sich seinem Kind mit. Wir dürfen nie vergessen: Ein kleines Kind ist ständig in der emotionalen Atmosphäre seiner Eltern. Es bekommt alles mit, Flüstern, Wutausbrüche, Streit, Schweigen – alles!“

Ein folgenreiches Erleben: In seiner überlebensnotwendigen Suche nach Bindung und Zuneigung spürt das Kind unbewusst genau Anteile der elterlichen Psyche auf, die es als rätselhaft empfindet und deswegen nur schwer integrieren kann. „Die Kinder, die so aufgewachsen sind, haben natürlich nicht verstanden, was sie da aufgenommen haben“, sagt Angela Moré. „Zum Teil sind sie identifiziert mit den Eltern oder haben unbewusste Aufträge von ihnen bekommen, nicht selten beides.“

Kinder agieren die Folgen der Vergangenheit aus

Das kann sich auf paradoxe Weise zeigen: indem Menschen sehr aktiv Wiedergutmachungsarbeit leisten – und womöglich gar nicht wissen, was sie dazu antreibt. Da ist der Drang, beweisen zu müssen, dass Deutsche auch gute Menschen sein können. Viele gehen in helfende oder heilende Berufe. „Das habe ich in meiner Lehrtätigkeit oft erlebt“, berichtet die Professorin. „Der Anteil ist sehr viel höher, als die meisten wissen.“

Das geht von einer Generation zur nächsten. Die Kinder wissen nicht um diese Aufträge, werden erwachsen, werden selbst Eltern – und zeigen ihren Kindern genau die emotionalen Anteile, die sie selbst auf diese Weise aufgenommen haben. Die Auswirkungen der Vergangenheit werden in der Abfolge der Generationen nicht etwa schwächer, betont die Soziologin Gabriele Rosenthal: „Deutlicher noch als ihre Eltern agieren die Enkel die Folgen der Vergangenheit aus.“ Sie entwickeln manifeste Störungen oder werden krank. Sie beginnen, „das Leiden an der Vergangenheit, die Vernichtungsängste und die sie verfolgenden Phantasien einzugestehen, offen zu äußern und auch auszuagieren.“ Das kann seinen Ausdruck auch in Aggression und Gewalt finden.

Der aktuelle Antisemitismus ist kein Zufall

Dass der Antisemitismus in Deutschland aktuell wieder erstarkt, dürfte kein Zufall sein. Studien weisen nach, wie Abwehr und Leugnung der Schuld am Holocaust immer stärker das Selbstbild der Deutschen bestimmen. So gaben 2018 bei einer Befragung 69 Prozent der Befragten an, unter ihren Vorfahren seien keine Täter des Zweiten Weltkriegs gewesen seien. Die offizielle Erinnerungskultur des deutschen Staates und die Erinnerung in den Familien klaffen auf drastische Weise auseinander.

Schaut man auf das vergangene Jahrhundert, entsteht ein monströses Bild staatlich organisierten Mordens. Der Holocaust mit seiner Vernichtungsindustrie ragt heraus, aber auch der Völkermord der Türken an den Armeniern gehört dazu, ebenso die Schreckensherrschaft des Stalinismus, der Vietnamkrieg, die Genozide in Kambodscha und Ruanda, der Massenmord von Srebenica. Und die Leugnung der Schuld wirkt zerstörerisch nach. So kam es in der Türkei zu schockartigen Reaktionen in der Generation der Enkel, als die familiären Verstrickungen in den Genozid offenbar wurden.

Als Nachfahren haben wir keine Schuld, aber Verantwortung

Die Weitergabe abgewehrter Schuld über Generationen ist auch nicht auf Genozide oder Kriegsverbrechen beschränkt. Mord oder sexualisierte Gewalt in Familien, Betrug, Diebstahl oder Untreue können ebenso Spuren im Unbewussten kommender Generationen hinterlassen.

Aber wie mit der Schuld der Vorfahren umgehen? Luise Reddemann, 1943 als Tochter von überzeugten Nationalsozialisten geboren, erinnert sich an eine Tagung, an der sie als frischgebackene Psychoanalytikerin teilnahm. „Da waren auch jüdische Kollegen. Ein älterer wurde nach einer Weile sehr streng mit uns. Er sagte, wir sollten aufhören, von Schuld zu sprechen. Wir hätten keine. Schuld, das hat sich mir an diesem Tag eingeprägt, hat immer nur der Täter. Wir Nachfahren aber haben Verantwortung – das Unsere zu tun, dass sich diese Taten nicht wiederholen. Dazu gehört, aufrichtig zu betrauern, was war und wozu Menschen fähig sind.“

Die Mechanismen der Verleugnung werden weitergegeben

Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg, teilt ihre Auffassung. „So etwas wie eine Erbschuld gibt es meiner Ansicht nach nicht. Es gibt die Schuld der Täter der Verbrechen, und sie wirkt nach. Aber man gibt nicht die Schuld weiter, sondern die Mechanismen von Verdrängung oder Verleugnung.“

In der Gedenkstätte finden seit 2009 Seminare mit dem Titel „Ein Täter in der Familie?“ statt. Darin sprechen Nachkommen über ihren Umgang mit dem familiären Erbe nach 1945, über ihre Gefühle von Loyalität und Illoyalität gegenüber den eigenen Eltern und Großeltern, darüber, wie die Familiengeschichte das eigene Leben prägt und was Nachforschungen in der Familie auslösen. Etwa 600 Menschen haben bisher teilgenommen, und von Wrochem hat beobachtet, wie stark gerade Unklarheit die Nachkommen belastet. „Es ist gar nicht so sehr die Tatsache, dass die Verwandten an Verbrechen beteiligt waren, sondern was die Nachkommen darüber vermuten. Diese Vermutungen sind oft monströser als das tatsächliche Geschehen.“ Von Wrochem hält inne. „Aber nicht immer.“

Unwissen belastet stärker als Wissen

Trotzdem sei es seiner Erfahrung nach einfacher, mit der Vergangenheit umzugehen, wenn man sie kennt. „Das Wissen um die Verbrechen scheint mir die psychischen Belastungen zu mindern.“ Vor allem ist es die entscheidende Voraussetzung, um die Weitergabe der Belastungen in die nächste Generation zu beenden.

Nur wenn wir Licht ins Dunkle bringen, verlieren die Geister ihre Macht.

 

Dieser Text ist in der Ausgabe „Schuld und Vergebung“ der Zeitschrift „anders handeln“ erschienen.

Foto: iStock

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