Wir Kriegsenkel sind doch bloß verweichlicht. Oder?

Eine Diskussion über einen Artikel in der „Welt“ illustriert die Missverständnisse rund um das Thema Kriegsenkel.
Sind Kriegsenkel eigentlich nur verweichlicht?

Die Diskussion über einen Artikel in der „Welt“ im Leserforum illustriert die Missverständnisse rund um das Thema Kriegsenkel.

Die Vorgeschichte war ganz normal. Claudia Becker, innenpolitische Redakteurin der „Welt“, kam auf mich zu, um einen Artikel über das Thema Kriegsenkel zu schreiben. Solche Anfragen erreichen uns, den Vorstand von Kriegsenkel e.V., immer wieder. Claudia Becker interessierte sich dann nicht nur für theoretische Hintergründe und gesellschaftspolitische Aspekte, sondern auch für meine biografischen Details. Ihren Text, der am 6. Juli in der „Welt“ erschien (zunächst online, hinter der Bezahlschranke), fand ich sehr gelungen. Er erklärt die Problematik der Kriegsenkel anschaulich und geht mit meinen persönlichen Erfahrungen respektvoll um. Was mich besonders freute: dass die Autorin den Aspekt der DDR-Kriegsenkel beschreibt, dies anhand von Erlebnissen und Einschätzungen von Cornelia Stieler. Das geschieht viel zu selten.

Rege Diskussion im Forum der „Welt“

Spannend wurde es anschließend im Forum der „Welt“, wo Leser:innen den Beitrag rege diskutierten. Da fand ein Patrick, mit 198 Kommentaren im Forum ein meinungsfreudiger Mensch, die Herleitung meines neun Jahre zurückliegenden Burn-outs aus meiner Familiengeschichte sei „verweichlichtes Getue“. Okay, wer heute mit persönlichen Infos in der Öffentlichkeit steht, sollte besser nicht verweichlicht sein und solche Anwürfe gelassen wegstecken.

Kriegsenkel stehen im Verdacht der Weinerlichkeit

Abseits vom polemischen Ton zeigt dieser Kommentar – und mit ihm viele andere – ein interessantes Phänomen: dass die in zahlreichen Studien nachgewiesenen Auswirkungen des deutschen Kriegserbes auf die nachfolgenden Generationen keineswegs von einer breiten Öffentlichkeit anerkannt werden. Wer darauf verweist, dass die Erlebnisse der Vorfahren in NS-, Kriegs- und Nachkriegszeit noch Jahrzehnte später auf unserem Leben lasten können, ist bei vielen Menschen im Verdacht der Weinerlichkeit.

Vor allem Männer machen das Thema lächerlich

Einige Auszüge aus dem Forum der „Welt“:

„Die Generation, die alles bekommen und nichts Schlimmes erlebt hat, ist so schwach und dekadent geworden, dass wir an Schicksalen zerbrechen, die nicht einmal unsere eigenen sind. Jammern ist wichtiger geworden als Selbstrespekt.“

„Was heute so alles zusammen konstruiert wird, ist frappierend! Da werden sogar Vereine gegründet.“

„Meine Eltern geb. 1920/1924 haben alles mitgemacht Krieg, Vertreibung etc. Ich habe bei ihnen keine Traumata entdeckt. Wahrscheinlich auch deshalb, weil sie gar keine Zeit hatten über irgendwelche Traumata nachzudenken. Sie waren damit beschäftigt das zerstörte Land aus dem Nichts und mit Nichts wieder aufzubauen und für ihre Zukunft und die ihrer Kinder hart zu arbeiten. Ich bin unter keinen Traumata aufgewachsen.“

„Wir müssen nicht wegen jedem kleinen Wehwehchen gleich nölen und jammern. So wären wir als Gesellschaft nie so weit gekommen. Es ist gut möglich, dass mit dieser neuen Einstellung die Hochplateaus der Dekadenz beginnen. Dann ist es nur logisch und ehrlich gesagt auch gerecht, wenn uns Chinesen, Inder und in Zukunft auch Araber weit überlegen sind.“

In der Mehrzahl waren es Männer, die das Thema Kriegsenkel lächerlich zu machen versuchten. Aber nicht nur. Eine Danuta fragte: „Wird hier nicht ein Thema herbeigeschrieben?“ Und eine Christina kommentierte: „Kriegsenkel … Wieder ein neues Opfermerkmal.“

Abwertungen sind vielen von uns gut bekannt

Nun sind uns Abwertungen wie diese aus Familie, Freundes- oder Kolleg:innenkreis gut bekannt. Wenn wir uns in den Seminaren von Kriegsenkel e.V. treffen, stiftet gerade die Anerkenntnis aller, dass wir an unserer Familiengeschichte zu tragen haben, die überaus wertschätzende und vertrauensvolle Atmosphäre, die so wohltuend, ja befreiend wirkt. Aus ihrem privaten Umfeld kennen viele Teilnehmer:innen das nicht. Deswegen sind die negativen Kommentare im „Welt“-Forum auch keine Überraschung.

Zentrale Missverständnisse beim Thema Kriegsenkel

Meiner Überzeugung nach beruhen sie aber auf Missverständnissen:

  • die Wahrnehmung des eigenen Leids in Kindheit und Jugend habe den Grund, sich als armes Opfer zu stilisieren. Tatsächlich ist sie die Voraussetzung, sich aus dem Status des Opfers zu befreien.
  • die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sei der Versuch, den Herausforderungen der Gegenwart auszuweichen. Bei vielen Kriegsenkeln, die ich kennengelernt habe, ist genau das Gegenteil richtig: Sie schauen zurück, um ihrer Zukunft besser gewachsen zu sein.
  • die Beschäftigung mit Traumata sei ein Abwälzen der Verantwortung für das eigene Leben auf die Eltern. Andersherum stimmt es: Erst wer sich um die eigene Heilung kümmert, handelt wirklich verantwortlich – nicht zuletzt für seine eigenen Kinder.

Mechanismen der Verleugnung und Verdrängung

In den abfälligen Kommentaren zeigten sich meiner Meinung nach zudem die Mechanismen von Verleugnung und Verdrängung, die wir schon aus der Generation der Kriegskinder kennen. Zu unangenehm, ja gefährlich könnte es sein, sich mit all den negativen Erfahrungen und Gefühlen zu konfrontieren.

Der Mut, sich der Familiengeschichte zu stellen

Das fanden auch einige der Diskutierenden:

„Sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen, bedeutet gerade nicht, zu jammern und sich auf die faule Haut zu legen.“

„Es braucht enormen Mut, sich diese Familienthemen anzuschauen.“

„Bewusste Trauerarbeit hat mit Selbstachtung und nicht mit Selbstmitleid zu tun.“

Ein Leben ohne Kriegserbe wäre anders verlaufen

Einen Kommentar fand ich besonders beeindruckend. Ebenso plastisch wie reflektiert schrieb eine Nicole: „Wäre mein Vater im Alter von fünf Jahren nicht auf der Flucht gewesen, und hätte er auf der Flucht nicht den Tod einer Schwester miterlebt, hätte meine Mutter ihren Vater kennenlernen können, weil er nicht im Krieg gefallen wäre, und hätte sie nicht als Kleinkind den ‚Feuersturm‘ miterlebt, bei dem das Zuhause untergegangen ist, und wäre sie nicht als Teenager ein weiteres Mal geflüchtet, diesmal aus der DDR, ich vermute, mein Vater wäre viel eher in der Lage gewesen, Gefühle zu zeigen, meine Mutter hätte vielleicht keine Depressionen bekommen und meine Eltern hätten sich nicht getrennt. Vielleicht wären mir auch meine Depressionen erspart geblieben. Ich weiß nicht, ob es anders gekommen wäre, ich denke aber, die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß. Und ich glaube, dass das Kleinreden oder Lächerlich machen dieser Auswirkungen einiger hier im Forum für Empathie- und Gedankenlosigkeit spricht.“

Sie hat recht. Und sie hat mit dieser Einschätzung nicht nur viele Kriegsenkel, sondern auch die Wissenschaft auf ihrer Seite.

Foto: iStock

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