Spurensuche im Gefühlserbe der Kriegsenkel

Beim Blick auf die Generation Kriegsenkel sollten wir die individuelle Geschichte der Einzelnen nicht übersehen. Wie die Recherche gelingt.
Das Gefühlserbe der Kriegsenkel

Spurensuche im Gefühlserbe der Kriegsenkel

Alle, die sich mit dem Thema Kriegsenkel befasst, vielleicht schon mal ein Seminar besucht haben, kennen die Symptome, die viele in unserer Generation erleben: die Bindungsprobleme mit Eltern und Kindern, die innere Einsamkeit, das Gefühl, das eigene Potenzial nicht wirklich zur Entfaltung gebracht zu haben, subtil wirkende Schuldgefühle, Schwierigkeiten mit Abgrenzung ebenso wie mit Hingabe. Wir wissen um unsere dysfunktionalen Glaubenssätze, die uns hindern, und die Traumata, die wir von unseren Eltern oder Großeltern übertragen bekommen haben.

 

Die Symptome der Generation Kriegsenkel

Es war entlastend zu erfahren, dass all das kein individuelles Versagen ist, kein Makel des Scheiterns, sondern das Kennzeichen einer Generation. In jedem Seminar wieder entsteht genau deswegen innerhalb ganz kurzer Zeit eine Atmosphäre der Verbundenheit, in der wir Persönliches teilen können, in der wir Mitgefühl und Interesse erleben – eine Erfahrung, die wir vorher schmerzlich vermisst haben.

 

Wie Kriegsgeschichten uns bis heute prägen

Die Aufgabe, die ich nach sechs Jahren Kriegsenkel-Seminaren sehe: im Blick auf das Kollektiv das Individuelle nicht zu übersehen. Die Unterschiede, die im alltäglichen Leben einen großen Effekt haben können. Aus einer Familie von Ostpreußen-Flüchtlingen zu stammen, die Jahre des Hungers im Lager zubringen mussten, hinterlässt eine deutlich andere Prägung als die Herkunft von einem Bauernhof, wo es nicht nur immer genug zu essen gab, sondern auch Kriegsgefangene als Zwangsarbeiter.

Wenn es im Jahr 2023 darum geht, eine familiäre Verstrickung aufzulösen, kommt es genau auf diese Details an. In der einen Familie mag es verdrängte Trauer geben, in der anderen abgewehrte Schuld. Und es können Geschichten sein, die es zunächst ganz unwichtig erscheinen, die bei der Aufklärung einer transgenerationalen Verstrickung auf einmal große Bedeutung bekommen. Das habe ich im Coaching oft erlebt.

 

Tief verschüttete Erlebnisse werden freigelegt

Für die Aufarbeitung der Spätfolgen hat die Psychotherapeutin Ulrike Pohl ein Modell entwickelt, das ich sehr hilfreich finde. Sie nennt es ein „psychoarchäologisches Schichtenmodell“. Psychoarchäologisch bedeutet: Es werden Erlebnisse und Wahrnehmungen, die tief in uns verschüttet sein können, freigelegt.

 

Die Dimensionen der Familienrecherche

Anhand von drei Dimensionen, so schlägt die Therapeutin vor, können wir uns auf die Suche machen:

  1. Die historischen Ereignisse. Sie beziehen sich auf den Hintergrund von Nationalsozialismus, Verfolgung und Holocaust, Krieg, Flucht und Vertreibung sowie Nachkriegszeit. Vor diesem Hintergrund, in Büchern und Filmen umfangreich dokumentiert, verstehen wir, was damals passierte.
  2. Die Positionierung der Handelnden: Wir müssen wissen, in welcher Rolle unsere Vorfahren das historische Geschehen erlebten – als Täter, Opfer, Mitläufer, Zuschauer oder Mitglieder des Widerstands? Das ist wichtig für das Verständnis dessen, der handelte.
  3. Die psychischen Auswirkungen: Hier sind es Traumata, Verstrickungen in die NS-Herrschaft, die Abwehr von Schuld oder Trauer, die in besonderer Weise auf uns Nachgeborene übertragen wurden.

Diese drei Dimensionen sind Hilfsmittel, um die mitunter komplexe Recherche zu strukturieren. Denn diese Dimensionen wirken, wie wir uns vorstellen können, auf sehr individuelle und vielfältige Weise aufeinander ein.

 

Warum in Familien geschwiegen wird

Nicht einmal das Symptom muss sich unterscheiden, wenn es trotzdem um vollkommen andere Gefühlserbschaften geht. So haben viele Nachfahren von Verfolgten des Nazi-Regimes unter demselben Schweigen gelitten wie die Nachfahren von Tätern – aber die Gründe für das Schweigen könnten unterschiedlicher nicht sein: In Familien von Verfolgten sollten die Nachfahren vor den grauenhaften Geschichten geschützt werden, in Familien von Tätern dagegen die Verantwortlichen vor der Offenlegung ihrer Taten. Die Folgen des Schweigens allerdings können wiederum ähnlich sein: ein Verlust des Kontakts zu den emotionalen Wurzeln der Familie, eine seltsame Schwäche der eigenen Identität.

 

Das Gefühlserbe der Kriegsenkel

Schauen wir also genauer hin. Je mehr wir wissen, umso klarer wird das Bild. Und ich möchte das Modell von Ulrike Pohl um eine vierte Dimension erweitern: den emotionalen Abdruck, den die Familiengeschichte in uns Nachfahren hinterlassen hat – das Gefühlserbe, das wir in uns tragen. Wie wurde davon erzählt – oder wie wurde es beschwiegen? Wie fühlt es sich an? Welche Bilder steigen in uns auf, wenn wir die Geschichte an uns heranlassen?

Nur, was wir kennen, können wir auch bearbeiten, auflösen, integrieren. Und es so unseren Kindern ersparen.

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