80 Jahre Kriegsende … aber auch in den Seelen?

Das Gefühlserbe der deutschen Geschichte von Krieg, Nazizeit, Flucht und Vertreibung ist präsent – es wirkt immer noch. Gerade, weil nur noch wenige Zeug:innen jener dunklen Zeit leben, kommt dem Jahrestag des Kriegsendes eine umso größere Bedeutung zu.

Am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr trat die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft. Sie beendete den Zweiten Weltkrieg in Europa und die Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland. 60 Millionen Menschen waren getötet, zahllose Städte, Dörfer und Landschaften verwüstet. Wie viele Überlebende traumatisiert waren, hat niemand gezählt.

Wenn wir in diesem Jahr also den 80. Jahrestag begehen, wenn der Bundestag zusammenkommt, der Bundespräsident eine Rede hält, wenn zahlreiche Veranstaltungen an die unterschiedlichsten Aspekte dieses welthistorischen Datums erinnern – ist es einfach ein weiterer Gedenktag, der mehr oder weniger routiniert begangen wird? Oder hat er doch eine über den Tag hinausweisende Bedeutung?

Vor 40 Jahren sprach Richard von Weizsäcker zum Jahrestag

Schauen wir 40 Jahre zurück, dann wird die enorme Kraft spürbar, die in einem solchen Datum geborgen sein kann. Denn am 8. Mai 2025 jährt sich auch jene Rede, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes gehalten hatte. 

Seine Worte damals: „Jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mussten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Hass. (…) Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah. Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. Als dann am Ende des Krieges die ganze unsagbare Wahrheit des Holocaust herauskam, beriefen sich allzu viele von uns darauf, nichts gewusst oder auch nur geahnt zu haben.“

„Die Rede“ des Bundespräsidenten hatte eine gewaltige Resonanz

Die Resonanz auf „die Rede“, wie sie schon kurz darauf genannt wurde: gewaltig. Keiner politischen Ansprache seither, schreibt der Historiker Norbert Frei, sei „ein ähnliches Maß an Beachtung und internationaler Anerkennung zuteilgeworden wie jener Weizsäckers.“ Der Schriftsteller Ralph Giordano schrieb an den Bundespräsidenten: Er bedanke sich dafür, auch im Namen seiner toten jüdischen Mutter. „Ich habe Ihren Worten in einer Art innerer Verzauberung gelauscht.“ Jener Ralph Giordano, der für die permanente Weigerung der Deutschen, sich ihrem Anteil an den Verbrechen in Nazizeit und Krieg zu stellen, das Wort der „zweiten Schuld“ geprägt hatte.

Was war geschehen? Am 8. Mai 1985 hatte von Weizsäcker nicht nur höchstamtlich vom „Tag der Befreiung“ für die Deutschen gesprochen (und nicht mehr von einem Tag der Niederlage), sondern ebenso mit der Legende aufgeräumt, die Deutschen hätten vom Völkermord an den Juden nichts gewusst. Er sprach damals zu Menschen, die das Grauen noch selbst erlebt hatten. Zu Tätern, zu Mitläufern und zu Opfern. Für viele Verfolgte war diese Rede eine späte Anerkennung ihrer Leiden. Und für die staatliche Erinnerungskultur ein Statement, hinter das es fortan kein Zurück mehr geben sollte.

Die Zeug:innen von Krieg und Nazizeit sind gestorben, ihre Mahnungen fehlen

Warum sollte uns das heute noch interessieren? 

Weil nach 80 Jahren fast alle Zeug:innen dieser Zeit verstorben sind, die Erlebens-Generation ist nicht mehr da. Weil sowohl die Familienmitglieder tot sind, die jahrelang jedes Gespräch über diese Zeit abgelehnt, als auch jene, die uns mit ihren Erinnerungen gemahnt haben. Vor allem jene, die gemahnt haben, fehlen uns sehr.

Weil es eben doch nicht vorbei ist. Der Kampf darum, welche Bedeutung die deutsche Verantwortung für Krieg und Völkermord heute noch haben sollte, ist gerade wieder aufgeflammt. Sichtbares Zeichen dafür sind die 20,8 Prozent Wählerstimmen für die AfD bei der Bundestagswahl in diesem Jahr, jener Partei, zu deren ideologischem Kern der Geschichtsrevisionismus gehört und das Bestreben, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu bagatellisieren.

Der Krieg: „ein generationenübergreifendes, psychosoziales Inferno“

Die Spuren, die jene Zeit in vielen Millionen Seelen hinterließen, sind nicht getilgt. Sie wirken fort. Der Psychoanalytiker Michael Ermann, 1943 geboren, schreibt, dass „jeder Krieg (…) immer ein generationenübergreifendes, psychosoziales Inferno darstellt: Überall auf der Welt zerbrechen Kriegstraumatisierungen die Seelen – die Seelen der Großeltern, der Eltern und der Kinder. Krieg hat überall die gleichen Wirkungen und Folgen. Er schlägt unheilbare Wunden. Und weil das Leben an ihnen zerbrechen kann, darf er kein Mittel der Politik sein.“ 

Ermann richtet die Perspektive auf die Individuen. Nicht minder wichtig sind die gesellschaftlichen Implikationen. Der amerikanische Friedensforscher Vamık Volkan, mehrfach für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, beschrieb bei Gruppen oder Nationen, die Opfer von Aggression geworden waren, Gefühle der Demütigung und Entwürdigung, der Scham und der Rache. Diese Gefühle würden abgespalten und verdrängt. Und so späteren Generationen als Bürde oder Auftrag überlassen, etwa indem Tote gerächt werden müssten. So speist ein Konflikt den nächsten.

Das Paradox der Erinnerungskultur

Die politischen, gesellschaftlichen, familiären und persönlichen Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden. Und es sei paradox, formulierte Harald Welzer treffend: Je umfassender das historische Wissen über Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung in Deutschland wurde, desto stärker forderten die Loyalitätsverpflichtungen in der Familie, Geschichten zu entwickeln, durch die die moralische Integrität der Eltern oder Großeltern geschützt wird. Die schockierende Wahrheit abzuwehren, dass die eigenen Vorfahren in ein verbrecherisches System verstrickt waren, ob nun durch Wegsehen, Dulden, Akzeptieren, Mittun oder gar eigene Initiative, soll dem Schutz des Familiensystems dienen.

Die Abwehr von Wahrheit und Erinnerung fordert einen hohen Preis

Allerdings hat diese Abwehr der Wahrheit ihren Preis. Er kann vom Zwang zur Wiedergutmachung etwa in Form eines Helfersyndroms über Depressionen, Angststörungen und dysfunktionale Familienstrukturen bis hin zu schweren körperlichen Symptomen reichen. Auch das Ausleben von Aggressionen kann die Folge sein, nicht selten in der Generation der Enkel. 

Wie stark diese transgenerationalen Weitergaben, zuerst von Sigmund Freud „Gefühlserbschaften“ genannt, das Leben der Nachfahren bestimmen können, wurde zuerst bei den Kindern der Holocaustüberlebenden nachgewiesen, später auch bei deren Enkel:innen sowie bei den Nachfahren der Täter und Täterinnen. Klinische Forschungen haben gezeigt, dass in diese Gefühlserbschaften bewusst verheimlichte oder unbewusst verleugnete sowie abgespaltene seelische Inhalte einfließen. Zum Gefühlserbe können sowohl traumatische Erlebnisse und unbetrauerte Verluste als auch Schuldgefühle gehören. Die Übertragung trägt nicht nur einen individuellen, sondern ebenso einen systemischen Aspekt in sich. Auch Bindungsmuster innerhalb von Familien überdauern oft mehrere Generationen.

Die Gefühle eines Kindes werden zur Gefahr für traumatisierte Seelen

Eindrucksvoll die Schilderung der Tochter einer Frau, die als Mädchen aus Ostpreußen fliehen musste: „Ich habe mich immer gefragt, warum meine Mutter so hart zu uns Kindern war. Wenn ich weinte, wurde ich in eine Kammer gesperrt. Bei Krankheit musste ich trotzdem zur Schule, sogar mit einer beginnenden Lungenentzündung. Dann fand ich ein Tagebuch meiner Großmutter von der Flucht 1945, meine Mutter war damals zwölf Jahre alt. Die Großmutter schrieb: ‚Die Kindheit meiner Tochter ist mit dem heutigen Tag beendet. Ich muss sie jetzt zwingen, erwachsen zu sein, jede Gefühlsduselei gefährdet unser Leben. Wenn wir durchkommen wollen, dürfen wir nicht mehr weinen.‘ Das hat mir das Verhalten meiner Mutter verständlich gemacht. Gefühle zeigen, Gefühle haben – das ging nicht. Und die Gefühle ihres Kindes, meine, wurden zur Gefahr für ihre traumatisierte und verschlossene Seele“ (aus: Bettina Alberti, „seelische Trümmer“).

In Familien schafft das Leid eine potenziell traumatisierende Atmosphäre

Das hat weitreichende Folgen. Die Abwehr der Emotionen kann dazu führen, dass Gefühle überhaupt blockiert werden. Zentrale Bereiche der Persönlichkeit können gleichsam einfrieren, die Beziehungsfähigkeit erstarrt. Das individuelle Leid des Kriegsheimkehrers, der Großmutter, die sexualisierte Gewalt erleiden musste, des gedemütigten, geprügelten Kindes – es sickerte in das Familiensystem ein und schuf ein destruktives Muster von Bindung und Beziehung, das Generationen überdauert, eine potenziell traumatisierende Atmosphäre. Die Gefühlskälte in vielen Familien, in denen die Babyboomer aufwuchsen, die cholerischen Ausbrüche, immer auch wieder die Gewalt, seelisch oder körperlich, haben hier ihren Ursprung.

Eine große amerikanische Studie belegt einen engen Zusammenhang zwischen belastenden Erfahrungen der Kindheit und späteren Gesundheitsrisiken, körperlichen Erkrankungen und psychischen Störungen. Die Traumatisierung in der Kindheit zeigt möglicherweise erst Jahrzehnte später ihre Wirkung, das allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit. Was ihre Behandlung erschwert: Die Zusammenhänge zwischen den Symptomen und ihren Jahrzehnte zurückliegenden Ursachen sind den Patient:innen in der Regel nicht bewusst.

„Was nicht ins Bewusstsein steigt, kommt als Schicksal zurück“

Vielen Ärzt:innen und Therapeut:innen freilich auch nicht. Der Traumataloge Bessel van der Kolk schreibt: „Niemand möchte sich an ein Trauma erinnern. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Gesellschaft nicht von den Traumatisierten selbst. Wir alle wollen in einer Welt leben, die sicher, beherrschbar und berechenbar ist, und Traumatisierte erinnern uns daran, dass dies nicht immer zutrifft. Um Traumata zu verstehen, müssen wir unseren natürlichen Widerwillen überwinden, uns mit dieser Realität auseinanderzusetzen, und wir müssen den Mut entwickeln, uns die Zeugnisse von Traumaüberlebenden anzuhören“.

Diese Zusammenhänge sind mit Studien der Epigenetik belegt. Unabhängig davon wird mir in meinen Workshops immer wieder berichtet, das Leben fühle sich fremdbestimmt an, wie ferngesteuert. Der Schriftsteller Christian Kracht hat dieses Phänomen in seinem Roman „Eurotrash“ plakativ auf den Punkt gebracht: „Was nicht ins Bewusstsein steigt, kommt als Schicksal zurück.“

Gegenüber Geflüchteten reinszenieren wir Erlebnisse der Nachkriegszeit

Wie etwa an Orten, an denen die heftige Abwehr der Aufnahme von Geflüchteten gleichsam eine Reinszenierung dessen darstellt, was Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg erleben mussten: als Heimatlose vor dem Nichts zu stehen, inmitten einer feindlich gesinnten Umwelt, die ihre Besitzstände zu wahren trachtete. Der Historiker Andreas Kossert nannte das Verhalten der Ortsansässigen in der Nachkriegszeit „deutschen Rassismus gegen deutsche Vertriebene“. Heute richtet er sich gegen Migrant:innen oder deren Nahfahren. Dabei wäre es für eine Gesellschaft, die auch ihrer historischen Verantwortung gerecht wird, eine zentrale Aufgabe, historische Lasten ins Bewusstsein zu holen, individuell, familiär und kollektiv, um nicht aus den abgespaltenen Gefühlen der Vergangenheit an der Gegenwart zu scheitern: an den Herausforderungen etwa, vor die uns die Integration von Geflüchteten stellt.

Holen wir die individuellen und kollektiven Traumata ins Bewusstsein

Wie kann das gelingen? Indem wir die individuellen und kollektiven Traumata ins Bewusstsein holen, die als Gefühlserbschaften jener Zeit von vor 80 Jahren in unserer Gesellschaft weiterleben. Es ist alles noch da. Wir können es spüren, wenn Menschen, die deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine den Impuls haben, sich im Keller einzuschließen, Vorräte zu horten, Fluchtrucksäcke zu packen. Wenn der Streit um Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine Familien und Freundeskreise, ja ein ganzes Land spaltet. Wenn jüdische Deutsche sich hier nicht mehr sicher fühlen. Wenn Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren wurden, aus Angst vor Abschiebungen nicht mehr schlafen können. Wenn viele von uns eine diffuse Angst packt angesichts der Wahlerfolge der AfD. 

Der 8. Mai 2025 kann ein sehr bedeutender Tag werden

All das ist praktisch Alltag geworden, etwas, das mir im Freundeskreis, in Workshops und im Coaching immer wieder berichtet wird. Die Wirkung der transgenerationalen Übertragungen, die seit ihrem Auftauchen in den Medien als individuelles Problem behandelt wurden, ist, wenn wir genauer hinschauen, längst zu einem gesellschaftlichen Phänomen geworden. Das Gefühlserbe der deutschen Geschichte ist präsent. Und es wirkt.

Ein Jahrestag wie der 8. Mai 2025 könnte der Anlass sein, seine Wirkung ins Bewusstsein zu holen. Der Tag, an dem sich das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus zum 80. Mal jährt, kann ein sehr bedeutender werden, ein Tag der Vergewisserung unserer Werte, an den wir uns noch lange erinnern. 

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