Toxische Beziehungen kennen viele von uns bereits aus der Kindheit – sie können ein Familienerbe sein. Der Selbsttest kann Aufschluss geben
„Warum? Warum nur habe ich eigentlich so lange in dieser toxischen Beziehung verharrt, das unerträgliche Verhalten erduldet und immer wieder versucht, das Verhältnis zu retten?“
Fragen wie diese kennen viele von uns, die sich über Jahre, manchmal Jahrzehnte von Partner:innen haben demütigen lassen, von ihnen beleidigt, bedroht, kontrolliert, isoliert oder manipuliert wurden. Wir stehen rätselnd, manchmal fassungslos davor und können im Nachhinein gar nicht mehr verstehen, wie wir uns so verstricken konnten in ein Netz von Abwertung und Manipulation. Umso bedeutender, die dahinterliegenden Mechanismen zu entschlüsseln.
Der Kern einer toxischen Beziehung ist Gewalt
„Toxisch“ bedeutet im Wortsinn „giftig“. Wenn wir von toxischen Beziehungen sprechen, nutzen wir also eine Metapher, in der ihre schädigende Wirkung bildhaft zum Ausdruck kommt. Wenn wir aber das beim Namen nennen, was den Kern einer toxischen Beziehung ausmacht, dann sprechen wir über Gewalt. Immer über psychische Gewalt, die sich in Worten, Blicken und Handlungen ausdrückt. Nicht selten aber auch über körperliche und sexualisierte Gewalt.
Nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums haben 57,5 Prozent der Frauen und 50,8 Prozent der Männer in Deutschland bereits Gewalt in der Partnerschaft erlebt. Frauen sind also signifikant häufiger Opfer. Das an sich ist erschreckend genug, aber es ist nicht alles. Denn Erfahrungen von Gewalt, so weist die Studie nach, überschreiten auch die Generationengrenzen: Viele Menschen, die heute Paargewalt erleiden oder ausüben, kennen dies aus ihrer Kindheit. Toxische Beziehungen sind also auch ein transgenerationales Erbe.
Frauen sind deutlich häufiger Opfer von Paargewalt
So erschütternd diese Zusammenhänge sind: Wirklich verblüffen können sie nicht. Denn zahlreiche Studien der Bindungs- und Familienforschung belegen, wie diese Muster von Generation zu Generation weitergegeben werden. Sie zeigen, wie stark sich die Beziehungen von Partnern, Eltern und Kindern generationenübergreifend ähneln, wie Einstellungen zur Erziehung, die Qualität von Ehen, Scheidungen, Kontaktabbrüche, Parentifizierung und Gewalterfahrungen wiederholt und reinszeniert werden.
Im Resümee einer großen amerikanischen Studie über die jahrzehntelangen Nachwirkungen von Kindheitstraumata schreiben die Autoren (Felitti et. al): „Eine der wichtigsten Übertragungsmanifestationen im Bereich von Trauma und Missbrauch besteht in der Wahl eines Partners, der eine Nachbildung eines Elternteils ist.“ Und sie fahren fort: „Wiederholte Fehler in wichtigen Lebensentscheidungen einschließlich mehrerer Ehen und Berufe sind häufig ein unbewusster Versuch, eine Situation in der Hoffnung auf ein besseres Ergebnis erneut zu durchleben. (…) Unsere Interaktionen mit unseren Kindern oder mit unseren Partnern basieren zu großen Teilen auf unbewussten Reaktionen auf die Art, wie wir selbst als Kinder behandelt worden sind.“
Toxische Beziehungen sind oft von Narzisst:innen geprägt
Als Kinder sagen wir uns: „Ich muss etwas falsch gemacht haben, damit so etwas geschieht.“ Aus dieser unwillkürlichen Reaktion auf das Verhalten der Eltern konstruieren wir Glaubenssätze, die wir fortan durchs Leben tragen. Zum Beispiel: „Ich bin falsch.“ Oder: „Ich bin verantwortlich.“ Und natürlich werden wir auf diese Weise manipulierbar für Menschen, die uns in einer toxischen Beziehung halten wollen. Es sind – was nicht überraschen kann – sehr oft Narzisst:innen. Kinder aus narzisstisch geprägten Familien wählen häufig narzisstische Partner:innen, geraten an Freund:innen dieser Prägung. (Zum Thema Narzissmus habe ich bereits mehrere Beiträge geschrieben)
So verharren wir viel zu lange in dieser Beziehung: weil, erstens, unser Selbstbild uns sagt, dass wir nun mal die Schuldigen seien. Und weil wir, zweitens, die Not von früher heilen wollen, indem wir eine toxische Beziehung retten – was der Grund dafür ist, dass wir uns immer und immer wieder anstrengen, sie zum Guten zu wenden (was nicht gelingen kann, denn eine wahrhaft toxische Beziehung lässt sich nicht heilen).
Mutter oder Vater, Partnerin oder Partner – oder der Chef?
Wenn ich hier von Beziehung schreibe, dann meine ich jede Art von Beziehung: zu Partner oder Partnerin, Mutter oder Vater, zu Geschwistern, Freund:innen oder zu den Personen in unserem Arbeitsumfeld. Genau deswegen bezieht sich der Selbsttest, den ihr hier und am Ende dieses Beitrags herunterladen könnt, auf alle diese Arten von Beziehungen. Nicht selten, so habe ich selbst erfahren sowie im Coaching und in Seminaren berichtet bekommen, ähnelt sich die Struktur dieser Beziehungen.
Aber natürlich stellt sich wie immer die Frage: Wie entkomme ich dem?
Der Selbsttest „toxische Beziehungen“ kann Aufschluss bieten
Der erste Schritt: sich der toxischen Qualität der Beziehung bewusst werden. Dabei kann der Selbsttest helfen.
Der zweite Schritt: sich anderen öffnen und Hilfe holen. Im Kontakt mit wohlmeinenden Menschen wieder lernen, der eigenen Wahrnehmung zu trauen und zu erleben, dass man eben doch liebenswert ist und anerkannt wird.
Wie wichtig es ist, wieder mit Menschen außerhalb des zerstörerischen Systems Kontakt zu knüpfen und eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, können wir auch daran sehen, dass toxische Personen genau dies so rigide zu unterbinden versuchen: Sie spüren intuitiv, dass hier Gefahr droht.
Sich Hilfe zu holen, ist der Wendepunkt
Tatsächlich kann dieser zweite Schritt der entscheidende sein. Denn von da an geht es nicht mehr um das Diktat des- oder derjenigen, die uns gefügig halten will. Von da an geht es um uns selbst.