Autobiografisches Schreiben ist heilsam! Es kann genauso wirksam sein wie ein Antidepressivum. Ja, tatsächlich. Lesen Sie hier, wie wir uns gesund schreiben können. Und: Ich biete Online-Seminare dazu an.
Gute Geschichten haben Macht über uns. Sie ziehen uns tief hinein in den Kosmos menschlicher Emotionen. Sie lassen uns Angst, Abscheu und Wut erleben, Trauer, Besorgnis und Mitgefühl, Freude, Bewunderung und Lust. Sie aktivieren unsere Muster, mit denen wir die Welt erklären, Konflikte wahrnehmen und bewältigen. Sie stellen uns die Frage, wie wir wohl anstelle der Helden reagiert hätten, fordern uns heraus, Position zu beziehen, präsentieren uns neue Handlungsmöglichkeiten und geben uns die Chance, darüber zu neuen Haltungen zu gelangen.
Menschen sind „story telling animals“
Die Leidenschaft fürs Erzählen reicht weit in die Entstehungsgeschichte unserer Gattung zurück. Menschen sind „story telling animals“, sagt der New Yorker Literaturwissenschaftler Jonathan Gottschall. Lange bevor sie eine Schrift entwickelten, erzählten sie sich bereits Geschichten. Das hat sich uns tief eingeprägt.
Aber wir wollen ja nicht nur Geschichten hören, wir lieben es auch, sie zu erzählen. Das ist etwas Intuitives, das wir uns früh im Leben aneignen. Dahinter liegt ein tiefes Bedürfnis, sagt die Psychoanalytikerin Professorin Brigitte Boothe: „Wer von sich selbst erzählt, macht Ansprüche geltend. Sein Befinden in der Welt soll für die Welt Bedeutung haben.“
Diese Geschichten wirken dabei nicht nur auf andere, sie wirken auch auf uns selbst. Mit ihrer Hilfe geben wir dem Leben und unserer Biografie Struktur und Bedeutung. Die Kindheit etwa erklären wir anhand einer Handvoll Erzählungen, die wir als „typisch“ bezeichnen und immer wieder vorbringen. Wie ein Dramaturg, der einen Roman für die Bühne inszeniert, wählen wir aus der Unzahl der Erlebnisse wenige aus, die wir zu einer plausiblen Herleitung unserer Persönlichkeit und unserer Lebenssituation verdichten. So entsteht ein „Narrativ“ – die Erklärung für unser Sosein.
Autobiografisches Schreiben fördert die Gesundheit
Im Zentrum der Geschichten stehen die Bedeutungen, die wir diesen Erlebnissen beimessen. Zeigen sie unsere Fähigkeiten oder Defizite, Freude oder Leid, Erfolge oder Erfahrungen des Scheiterns? In der Lebensrückblicktherapie, die Andreas Maercker entwickelt hat, werden gezielt alle Aspekte aktiviert. Maercker, Professor für Psychopathologie und Klinische Intervention an der Universität Zürich, erläutert: „Wir stellen für jede Lebensphase drei Fragen: nach einem positiven Lebensereignis, nach einem negativen und nach einem Erlebnis, in dem ein Problem gut bewältigt werden konnte.“ Allein mithilfe dieses angeleiteten Erzählens bessern sich im Verlauf von drei Monaten Depressionen, Selbstwert, Wohlbefinden sowie der Erinnerungs- und Erzählstil.
Wie ungemein positiv sich die schriftliche Bearbeitung von Erlebnissen aufs Wohlbefinden auswirken kann, ist durch zahlreiche Studien belegt, zuerst in den 80erjahren vom amerikanischen Psychologen James Pennebaker. Er wies nach, dass bereits 10 bis 30 Minuten des Schreibens über emotional Belastendes an drei bis fünf Tagen hintereinander signifikante Effekte auf Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden haben. Die von Andreas Maercker entwickelte Lebensrückblicktherapie hat gar eine Effektstärke, die der von Antidepressiva entspricht – nur komplett ohne deren Nebenwirkungen.
Autobiografisches Schreiben aktiviert unsere Selbstheilungskräfte
Das Erzählen, zumal das autobiografische Schreiben, aktiviert gleichsam unsere Selbstheilungskräfte. Vier Faktoren sind dabei wirksam, wie die Brigitte Boothe in ihrem Buch „Das Narrativ“ beschreibt.
Aktualisierung: Jeder, der erzählt, vergegenwärtigt sich seine Biografie. Man ist in eine Kontinuität des Lebens eingebunden, es gibt einen „Faden vom Hier und Jetzt zum Dort und Damals“, wie Boothe es nennt.
Bewältigung: Die in der Psychologie bekannteste Wirkung des Erzählens. Etwas hat uns destabilisiert, und jetzt empfinden wir den Drang, es bei jemandem wieder „loszuwerden“. Viele Menschen wollen belastende Erlebnisse immer aufs Neue erzählen, um eine Struktur zu entwickeln, mit deren Hilfe es schließlich gelingt, ihnen einen angemessenen Platz in ihrem Inneren zu geben. Das Erzählen lässt sie die Gefühle miterleben, und diese Konfrontation ermöglicht die Emotionsregulation.
Wunscherfüllung: „Die Welt interessiert sich ja leider nie für das, was mir gerade wichtig ist“, sagt Brigitte Boothe, „und die Menschen sind oft anders zu mir, als ich mir das vorstelle. Aber durch das Erzählen gestalte ich mir die Welt so – meistens, ohne es zu merken! –, dass meine Wünsche ein wenig mehr bedient werden. Und wenn mir diese Geschichte geglaubt wird, hilft mir das, dass sich meine erlebte Wirklichkeit der annähert, die ich mir wünsche.“
Schließlich die soziale Integration: Wir bringen uns als Individuum in die Gemeinschaft ein, können mit unserer Geschichte für uns werben. Wir werden erzählend erkannt und bekommen die Bestätigung, dass andere uns unsere Erzählung abnehmen. Das ist zentral für eine Erzählung: Sie muss angenommen werden!
„Wir sind, was wir erinnern“
Im Verlauf des Prozesses entsteht eine neue Kohärenz – das Bewusstsein, dass das Erlebte nun ein akzeptierter und integrierter Teil der eigenen Biografie ist. Die Verbindung von Erinnerung und Gedächtnis mit der persönlichen Identität ist eng. Andreas Maercker: „Wir sind, was wir erinnern.“ Und davon erzählen wir dann.
Vor allem das Schreiben entwickelt dabei seine eigene Kraft, denn auf einmal werden wir zu Regisseuren unseres eigenen Lebens – selbst wenn wir Erfahrungen des Scheiterns beschreiben. Wir können in eine souveräne Position gelangen, von der aus wir auf Augenhöhe mit inneren Beziehungen kommen, die vorher überwältigend schienen. Was enorm hilft: die Möglichkeit, dabei die Tonart zu wechseln. Wir können komisch erzählen, ironisch, tragisch, empört, distanziert wie ein Reporter oder fabulierend wie Scheherazade. Mit diesem Spiel der Tonarten des eigenen Lebens erobern wir eine neue Freiheit des Blicks. Und auf einmal fühlen wir uns mit unserem Leben wohl.
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Foto: Getty