Narzissmus – ein Thema für die Generation Kriegsenkel?

Viele Kriegsenkel berichten von Narzissmus in ihren Herkunftsfamilien. Zufall, Mode-Diagnose – oder eine innere Logik, die sich aus Krieg und Nazi-Regime erklärt? Die sozialpsychologische Forschung hat überraschende Antworten.

 

„Wie konnte meine Mutter, mein Vater …“

Dem Schatten der kollektiven Vergangenheit mehr Raum zu geben, ist einer der Leitsätze der Arbeit von Luise Reddemann. In der Einleitung ihres Buches „Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie“ schreibt die Pionierin der Traumatherapie in Deutschland: „Es geht darum, nicht nur zu wissen, sondern auch sich erschüttern zu lassen, um zu trauern und die Vergangenheit zu akzeptieren, wie sie war, um schließlich gegenwärtiger sein zu können.“

Nicht nur zu wissen, sondern sich erschüttern zu lassen – das ist im Gespräch mit Kriegsenkeln praktisch unvermeidlich. Wenn Teilnehmer:innen in Kriegsenkel-Seminaren oder Klient:innen im Coaching aus ihrer Kindheit und Jugend erzählen, sind es immer wieder verstörende Erlebnisse, von denen sie berichten: Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit, Ablehnung, Entwertung, Demütigung, seelische und körperliche Gewalt. Meist klingt ein Unglaube mit. „Ich verstehe es einfach nicht! Wie konnten meine Mutter, mein Vater, meine Großeltern …?“

 

Krieg und Flucht als hinreichende Erklärung?

Die Gefühlskälte der Kriegskinder als ihrer Eltern, deren mangelnde Empathie und selbstbezogenes Wesen sind in der Literatur oft beschrieben worden. Die Begründung dafür war das Grauen, das sie im Krieg, auf der Flucht und in den Hungerjahren im zerstörten Deutschland erleiden mussten. Um überleben zu können, so die Herleitung, schnitten sie sich von ihren Gefühlen ab und trugen zudem so viel Leid in sich, dass für ihre Kinder keine Kraft mehr zur Verfügung stand. Das ist unbestreitbar richtig. Aber ist es auch eine hinreichende Erklärung für das, was ihre Kinder, die Kriegsenkel, zuhause erleben mussten – und heute oftmals immer noch erleben?

Schauen wir genauer auf das Verhalten vieler Kriegskinder als Eltern, entsteht eine Liste wie diese:

  • Sie interessieren sich nur für sich selbst.
  • Die Bedürfnisse anderer sind für sie nicht relevant.
  • Sie fordern Unterordnung, auch von erwachsenen Kindern.
  • Sie werten sie ab.
  • Sie ertragen nicht die leiseste Kritik.
  • Sie haben wenig oder gar kein Mitgefühl.
  • Sie sind nicht in der Lage, ihr eigenes Verhalten kritisch zu hinterfragen.
  • Man kann ihnen nichts recht machen.
  • Ihre Haltung ist: „Ich brauche dich, damit es mir gut geht. Und deshalb muss du so sein, wie ich dich haben will.“
 

Diese Beschreibung stammt allerdings nicht aus der Literatur über Kriegskinder – sondern aus der Beschreibung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen. Und tatsächlich spricht viel dafür, dass viele Elternhäuser von Kriegsenkeln eine narzisstische Prägung aufweisen.

 

„Oh mein Gott, deswegen …“

Wenn ich diesen Zusammenhang in Seminaren oder Coachings anspreche, wirkt das nicht selten wie ein Blitzschlag der Erkenntnis. „Ich bin fast vom Stuhl gefallen“, entfuhr es der Teilnehmerin eines Narzissmus-Workshops. Es war ein Erkennen, Erstaunen, Entsetzen, das sie erfasste. „Oh mein Gott, deswegen …“ In diesem Blitzschlag auf einmal zu verstehen, dass es nicht ihr eigenes Versagen war, das die Herabwürdigung durch Mutter oder Vater legitimieren könnte, keine irgendwie geartete individuelle Schuld, sondern Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung dieser Menschen, auf die sie als Kind überlebensnotwendig angewiesen war – diese Erkenntnis ändert tatsächlich alles. Die jahrzehntelang erlittenen Vorwürfe werden entlarvt als das, was sie wirklich waren und sind: Strategien, um die Tochter mithilfe von Selbstzweifeln und Schuldvorwürfen zu manipulieren.

 

Narzissmus – der Begriff provoziert Widerspruch

In der Facebook-Gruppe von Kriegsenkel e.V. mit ihren 1500 Mitgliedern wurde dieser Zusammenhang zwischen Narzissmus und Kriegsenkel-Familien ebenso lebhaft wie kontrovers diskutiert. „Ich kann diesen Artikel zu 100 Prozent unterschreiben. Auf meine Eltern passt das perfekt“, kommentierte eine Teilnehmerin einen ersten Text zum Thema von mir. „Narzissmus ist kein Kriegsenkel-Phänomen“, widersprach eine andere. Auch andere Menschen, die keine Kriegserfahrungen gemacht hätten, könnten schließlich diese Persönlichkeitsstörung entwickeln. Und sei das  nicht eine Mode-Diagnose, die viel zu schnell bei der Hand sei?

Berechtigte Hinweise. Wahrlich nicht alles, was der Generation der etwa zwischen 1960 und 1980 Geborenen widerfährt, ist ein spezifisches Thema (tatsächlich sind es sehr viele Themen nicht). Gibt es dennoch einen inneren Zusammenhang zwischen Narzissmus und dem Erleben der Kriegsenkel in ihren Familien, einen Zusammenhang womöglich, der für sie nicht nur historisch, sondern auch aktuell Relevanz hat? Ein Exkurs in die sozialpsychologische Forschung, so bin ich überzeugt, wird dies belegen. Der Weg führt zunächst zurück in die Kindheit der Kriegskinder.

 

Ausgeliefert einer mitleidlosen Erziehung: Die NS-Ideale für den Umgang mit Kindern würde man aus heutiger Sicht Kindesmisshandlung nennen.

 

In der NS-Zeit hatte Kindesmisshandlung Methode

In einer Studie zu „Kindheiten im Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg“ schreiben die Soziologinnen und Psychologinnen Ilka Quindeau, Katrin Einert und Nadine Teuber: Es sei ein zentrales Problem der Forschung zu Kriegskindern, „dass das vielfach fortbestehende Leiden der Kinder als mehr oder weniger ausschließliche Folge des Zweiten Weltkriegs interpretiert wird.“ Dabei „waren es nicht nur die Bombennächte, die Erfahrung von Flucht und Vertreibung, die belastende bis traumatisierende Auswirkungen zeitigten, sondern maßgeblich auch die Beziehungserfahrungen mit den eigenen Eltern“ – die Sozialisation und Erziehung unter der Nazi-Ideologie. Aus heutiger Perspektive würde man sie als Kindesmisshandlung bezeichnen.

Die Misshandlung hatte, wie wir wissen, Methode. Das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer, 1934 erschienen, gehört sicher zu den krassesten Dokumenten dieser Unmenschlichkeit. Die Grundzüge des nationalsozialistischen Erziehungsideals, die Haarer formulierte, waren Zucht, Unterwerfung, Reinlichkeit und Opferbereitschaft, Einordnung in die Gemeinschaft, Abstreifen aller Wehleidigkeit, Tapferkeit und Mut, Gehorsam und Disziplin. „Das Kind wurde als ein Wesen beschrieben, das von Beginn seines Lebens an gierig, faul, tyrannisch, unrein und zerstörerisch ist“, schreiben die Forscherinnen. „Die Geburt war nach Haarer der Beginn eines langen Kampfes mit dem Ziel, das Kind mit allen Mitteln gefügig zu machen.“

 

Narzisstischer Größenwahn als Staatsräson

Wann immer ich Zeilen wie diese lese, bin ich voller Entsetzen und Mitgefühl für die Kinder, die dies erleiden mussten: unsere Eltern. Sie waren Opfer eines verbrecherischen Regimes, das sich den Zugriff auf seine Untertanen schon direkt nach der Geburt zu sichern versuchte. „Das im nationalsozialistischen Sinn erzogene Kind wird gesünder, stärker, schöner, leistungsfähiger und zuverlässiger sein als je ein Kind der Vergangenheit“, lautete die Propaganda. Narzisstischer Größenwahn. Er verband sich mit einer Identifikation mit einer mächtigen, oft sadistischen Autorität, völlig fehlendem Schuldgefühl und einer Unfähigkeit zur Empathie als Erziehungsprinzip in Kindergarten, Schule, Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädel. Psychopathologie als Staatsräson. Maligner – bösartiger – Narzissmus als gesellschaftskonforme Persönlichkeitsstörung (der Begriff stammt von der Sozialpsychologin Nele Reuleaux).

 

Kindern wurden auch nach 1945 NS-Ideale eingetrichtert

Nach Kriegsende und dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes war damit in der Öffentlichkeit Schluss – im Privaten freilich nicht. Der Psychoanalytiker Werner Bohleber beschreibt, wie sich diese Dynamik in den Familien fortsetzte: „Vielfach wurden die Kinder als Selbstobjekte funktionalisiert, um den verunsicherten Eltern zu ermöglichen, ihre Selbstachtung und Identität aufrechtzuerhalten. An ihren Kindern versicherten sich solche Eltern der Gültigkeit von Wertvorstellungen, die nach 1945 öffentlich außer Kraft gesetzt waren. So wurden Kindern häufig Erziehungsideale eingetrichtert, aus denen an der Oberfläche die NS-Ideologie getilgt war. Härte, Verachtung von Schwäche und Krankheit, ‚Haltung bewahren‘ … bildeten lange einer der hartnäckigsten ‚Gefühlerbschaften‘ aus jener Zeit.“ Nicht zuletzt an den Schulen, an denen häufig noch nationalsozialistisch geprägte Lehrer unterrichteten.

 

Wie alle Institutionen diente auch die Schule dem Eintrichtern der NS-Erziehungsziele. Nationalsozialistisch geprägte Lehrer unterrichteten bis in die 70erjahre hinein.

Auf diese Weise wurden, wie Bohleber formuliert, „die Nachkommen zum Container für das unverarbeitete Leid und die Traumatisierungen, für abgewiesene Schuld und Verantwortung ihrer Eltern sowie für nicht aufgegebene Bestandteile der NS-Ideologie.“ Die Dynamik von Hass und Entwertung tobte sich innerhalb der Familien aus, so Bohleber. Die Eltern funktionalisierten ihre Kinder als Selbstobjekte zum Erhalt ihres narzisstischen Gleichgewichts: „Eigene Schwäche und Versagen, nagender Zweifel und Schuldgefühle wurden projektiv in das Kind transportiert, dort deponiert und verachtet.“

 

Eine überwunden geglaubte Ideologie lebte fort

Wir sprechen hier von der Generation unserer Großeltern. Nicht von ihrer Gesamtheit, natürlich nicht, aber von einer signifikanten Gruppe. Eine mögliche Folge der traumatisierenden Art, wie sie ihre Kinder – unsere Eltern – behandelten: eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. In ihr lebten dann die Ideale einer überwunden geglaubten Ideologie unbewusst fort. Vor diesem Hintergrund erscheinen die leidvollen Erlebnisse der Kriegsenkel, von denen sie vielfach in Seminaren erzählen, nicht mehr zufällig, sondern geradezu zwangsläufig.

Mir ist bewusst, welche Kritik, ja Empörung an dieser Stelle aufbranden kann. Sie kam schon in der bereits erwähnten Debatte in der Facebook-Gruppe. Ich würde argumentieren, als wären diese Personen gar keine Menschen, sondern der Teufel in Person, agierend wie ein Roboter. Dabei seien sie doch auch nur Menschen, schwach, voller Zweifel, Ängste und Druck. Und gäbe es nicht in jeder und jedem von uns narzisstische Anteile? Natürlich gibt es die. Aber wie könnten wir uns da anmaßen, sie anzuklagen?

 

NS-Erbe in der eigenen Familie? Für viele kein Thema

Ich kann diese Haltung sehr gut nachempfinden. Es fühlt sich auch für mich sehr unangenehm an, die Generationen der eigenen Großeltern und Eltern in einen Zusammenhang mit menschenfeindlicher Erziehung, nationalem Größenwahn und einer potenziell sadistischen Persönlichkeitsstörung zu stellen. Dieser innere Widerstand ist gewiss auch ein Grund dafür, dass Abwehr und Leugnung der Schuld am Holocaust immer stärker das Selbstbild der Deutschen im Privaten bestimmen. So gaben bei einer Befragung im Jahr 2018 69 Prozent der Befragten an, unter ihren Vorfahren seien keine Täter des Zweiten Weltkriegs gewesen. Wahrlich nicht alle haben die Größe von Luise Reddemann, die in Vorträgen bekennt, eine bis zu ihrem Lebensende überzeugte Nationalsozialistin als Mutter gehabt zu haben. Aber vielleicht ist sie deswegen von so viel Mitgefühl, Freundlichkeit und Klarheit geprägt, weil sie den Widerschein dieses Erbes in sich angeschaut und bearbeitet hat?

Das ist die Frage, die mich bewegt: Was können wir lernen, wenn wir Narzissmus als ein Thema der Kriegsenkel anerkennen und seine Wurzeln auch in der gesellschaftskonformen Persönlichkeitsstörung des Nazi-Regimes suchen?

In dem Zitat, das ich vorangestellt habe, formuliert Luise Reddemann drei Aufgaben: nicht nur zu wissen, sondern sich erschüttern zu lassen; zu trauern und die Vergangenheit zu akzeptieren, wie sie war; und schließlich das Ankommen in der Gegenwart.

 

Die Kriegskinder haben Anrecht auf unser Mitgefühl

Dem ersten Punkt sind wir bereits nähergekommen. Wir haben die kinderfeindliche Ideologie des nationalsozialistischen Erziehungsideals angeschaut, die Folgen für den Umgang mit Säuglingen und kleinen Kindern, den Drill in Kindergarten und Schule und den NS-Jugendorganisationen. Aber was haben unsere Eltern konkret erlebt? Uns berühren zu lassen von ihren Geschichten, ihrem Leid, kann helfen, Mitgefühl zu empfinden und ein tieferes Verständnis für die Atmosphäre, in der sie aufwachsen mussten, zu entwickeln.

Aber das Mitgefühl kann und soll keinesfalls das Leid entschuldigen oder gar aufheben, dass die Kriegskinder als Eltern an ihren Kindern verursacht haben. Ein Opfer, das zum Täter wird, ist dennoch ein Täter. Freilich lässt sich diese Erkenntnis nicht erzwingen, zumal nicht bei einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur. Und so bleibt vielen Kriegsenkeln, wenn sie sich aus den Verstrickungen der Familie lösen wollen, nur die Trauer. Um ihre Kindheit, in der sie parentifiziert und narzisstisch in Anspruch genommen wurden. Trauer ist die Emotion der Veränderung: Wir akzeptieren die Vergangenheit, wie sie war, schließen ab mit den alten Geschichten und können von nun an gegenwärtiger handeln.

 

Der Kontakt mit ihnen kann alte Verletzungen anrühren

 

 

Im Umgang mit narzisstischen Eltern, die von ihren Kindern Pflege und Hingabe einfordern, können alte Verletzungen wieder wach werden.

In der Gegenwart ankommen: Im Umgang mit narzisstischen Eltern, die alt und womöglich hinfällig und pflegebedürftig geworden sind, kann das eine enorme Herausforderung sein, kräftemäßig und emotional. Es sind die alten Schmerzen und längst verdrängten Bilder der Kindheit und Jugend, die Verletzungen und Enttäuschungen, die unmittelbar wieder wach werden. Und immer noch gibt es von vielen Eltern keine Zeichen der Anerkenntnis dafür, geschweige denn Gesten der Entschuldigung oder Wiedergutmachung. Ich möchte hier nicht ins Detail gehen, kann aber diesen Text über die Pflege eines narzisstischen Elternteils empfehlen. Ein zentraler Satz daraus: „Narzisstische Eltern binden ihre Kinder durch Schuldgefühle.“

 

Sich Hilfe zu suchen, kann der Wendepunkt sein

 

Wenn wir um diese Mechanismen wissen, wenn wir das Wesen der narzisstischen Störung verstanden haben, können wir zu einer realistischen Einschätzung unserer Situation kommen. Wir können die Mittel der Manipulation entlarven, unsere eigene Haltung entwickeln und bessere Entscheidungen treffen – uns vielleicht auch Hilfe holen. „Wenn das Eingeständnis gelingt, dass ich Hilfe brauche, ist ein bedeutender Schritt getan“, sagt die Traumatherapeutin Sonika Husfeld-Suethoff. „Das kann der Wendepunkt sein. Von hier an geht es nicht mehr um den oder die Narzisst:in. Von hier geht es um das eigene Bedürfnis, die eigene Kraft.“ (lesen Sie hier das komplette Interview mit Sonika Husfeld-Suethoff: Befreiung aus narzisstischen Verhältnissen).

 

Wie viel Narzissmus steckt in uns selbst?

Aus dem Wissen um die transgenerationale Weitergabe von Traumata drängt sich schließlich eine Frage auf, die sich auch nicht wirklich gut anfühlt: Wenn narzisstische Verhältnisse in unseren Familien geherrscht haben – wie viel davon steckt in uns selbst? Spätestens mit dieser Frage sind wir in der Gegenwart angekommen.

Fotos: iStock

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