Was Putins Krieg in ostdeutschen Kriegsenkeln wachruft

"Albträume, Panikattacken – alles ist wieder da." Interview mit Birgit Neumann-Becker, Beauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

„Albträume, Panikattacken – alles ist wieder da.“ Interview mit Birgit Neumann-Becker, Theologin und Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Wie haben Sie die Nachricht vom Einmarsch der russischen Truppen aufgenommen?
Ich gestehe, ich hatte das erwartet. Nicht genau an diesem Tag, aber dass sie kommen würde. Es ist genau das geschehen, was der Präsident der Russischen Föderation angekündigt hat. Ich habe nicht verstanden, warum die politisch Verantwortlichen im Westen das nicht ernst genommen haben. Die osteuropäischen Länder – etwa Polen, die baltischen Staaten, Rumänien – haben das sehr viel klarer gesehen. Während wir uns das nicht vorstellen konnten, weil wir es uns vielleicht auch nicht vorstellen wollten. Das halte ich für ein großes Versagen. Spätestens mit der Annexion der Krim, aber eigentlich schon vorher, hätte man Putins Absichten erkennen können.

Was bedeutet das für Sie?
Ich erlebe die Situation als eine Zeitenwende, als historische Zäsur. Viele, mit denen ich spreche, aber auch ich selbst, versuchen gerade, sich neu zu sortieren. Was wir an Freiheit haben, was wir an Demokratie erleben dürfen, ist keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen uns dafür einsetzen, innen- und außenpolitisch. Als Mensch, der in einer Diktatur aufgewachsen ist, empfinde ich das besonders intensiv.

Sie haben mit Verfolgten der SED-Diktatur gesprochen. Was haben sie Ihnen erzählt?
Ihnen sind auf einmal die Jahreszahlen 1953, 1956, 1968 und 1981 wieder überaus präsent – die Jahre, in denen sowjetische Truppen Demokratiebewegungen im Ostblock niedergewalzt haben. Sie haben Angsträume und Panikattacken, fühlen sich wieder zurückversetzt in jene Zeit, als ihnen das Wort im Munde umgedreht wurde. Ich habe das aber auch an mir gemerkt, bereits Tage vor dem Einmarsch. Ich hatte Albträume, und alte Geschichten der Verfolgung kamen in mir hoch, Erlebnisse mit Geheimdienst und Polizei. Ich habe diese Ohnmacht wieder gespürt, diese unmissverständliche Botschaft des Apparats: „Du hast keine Chance!“ Dasselbe habe ich von ehemaligen Häftlingen gehört. Sie sagen: „Diese Lügen in Gerichtsverfahren, diese Vorwürfe, die allesamt erfunden waren, gegen die ich mich überhaupt nicht wehren konnte, diese Gewalt – das ist alles wieder da!“ Sowohl am Tag, wenn sie die Nachrichten und darin die russische Propaganda wahrnehmen, aber auch nachts in ihren Träumen. Diese Menschen kennen sich mit Diktaturen aus. Sie wissen: Das ist kein Spiel. Putin meint das so, und er will es auch so.

Was hören Sie im Gespräch mit Kriegskindern?
Ich spreche viel mit meiner Mutter, die 1938 geboren wurde und alle Erfahrungen von Bombennächten bis hin zu Flucht und Vertreibung miterlebt hat. Auch das ist alles wieder da. Ein Schock. Umso wichtiger, dass wir darüber sprechen. Um es zu verstehen, aber auch um diese Erkenntnisse ins politische Handeln einfließen zu lassen: Unsere Selbstverständlichkeit von Sicherheit gibt es nicht mehr. Wir müssen aktiv etwas dafür tun.

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Erleben Sie unter den in der DDR Geborenen auch Sympathie für Putins Krieg?
Soweit will ich nicht gehen. Aber es gibt Kreise, in denen durchaus eine Sowjet-Freundschaft gepflegt wird. Das sind alte Linien. Die Sympathien für das untergegangene sozialistische Osteuropa verbinden sich mit dem Gefühl jener, die sich als Verlierer der Geschichte empfinden. Die sich vom Westen übernommen fühlen und ihre Lebensleistung nicht gewürdigt sehen. Auf diesem Ticket hat Putin viel Verständnis bekommen. Kritik an seiner Politik wurde als Russland-Hass diskreditiert, was ich für Unsinn halte. Viele Deutsche, ich eingeschlossen, empfinden eine sentimentale Verbindung zu diesem Land, und eigentlich würde ich sehr, sehr gerne mal mit der Transsibirischen Eisenbahn zum Baikalsee fahren.

Mich bewegt die Frage, wie wir eine Haltung finden, die auch der Verantwortung gerecht wird, was Nazi-Deutschland den Menschen in Russland angetan hat.
Das ist sicher der Schlüssel zu der Lähmung in der Politik, die wir in den vergangenen Jahren Putin gegenüber erlebt haben. Natürlich gibt es diese Verantwortung, und sie fordert uns dazu auf, kooperativ zu sein. Aber es gibt genauso eine Verantwortung der Deutschen gegenüber der Ukraine. Sie hatte unter der Herrschaft Stalins bereits unfassbar gelitten, die Menschen sind im sogenannten Holodomor zu Millionen gestorben – bis dann die Deutschen kamen und das Grauen der Vernichtung noch einmal steigerten. Beide Länder, Russland und die Ukraine, sind Kriegsopfer Deutschlands. Dass sie nun im Krieg miteinander sind, erzeugt bei uns naturgemäß eine Spannung. Aber aus aktueller Perspektive kann die Solidarität nur auf Seiten der Ukraine sein.

Was können Menschen, die sich als Kriegsenkel verstehen und damit ein tieferes Verständnis etwa für transgenerationale Zusammenhänge haben, jetzt tun?
Was wir als Generation anbieten können, ist eine Empathie für das Leid, das die Ukrainer gerade erleben. Wir kennen es von unseren Eltern. Kurz vor dem Einmarsch der russischen Truppen haben wir noch Fotos von Plätzen in Kiew oder Charkiw gesehen – und drei Tage später lagen sie in Trümmern. Uns in dem Bewusstsein, was das in Seelen anrichtet, um die Menschen kümmern zu können, die jetzt hierherkommen: Das bringen wir mit. Wir wissen, dass gerade neue Kriegstraumata erlitten werden und wie lange sie nachwirken. Aber wir können den Menschen, mit denen wir empathisch in Kontakt kommen, dieses Schicksal ein wenig erleichtern. Wenn wir uns dem Leid der Eltern nicht verschlossen, unsere eigenen Erfahrungen damit bearbeitet haben, dann kann es nur heißen: Öffnen wir unsere Herzen und unsere Türen! Wir haben eine Last mitzutragen. Wirtschaftlich, aber vor allem emotional.

Sie sehen also eine persönliche Verantwortung in der Zivilgesellschaft?
Unbedingt! Wir können aktiv sein, ganz ohne Politik. Als in den 60er- und 70erjahren Schriftsteller wie Andrej Sacharow oder Alexander Solschenizyn im Westen wahrgenommen wurden, hat das die dortige Menschenrechtsbewegung gestärkt. Was denken die ukrainischen, die belarussischen Schriftsteller – die Menschen in Belarus sind komplett gegen ihren Willen in einen Krieg hineingezogen! Das sind so tolle Leute! Was schreiben sie? Wir können ihnen zeigen, „wir lesen eure Bücher, wir hören euch zu!“
Persönliches Engagement ist so wertvoll. Ich habe vorhin ein Foto bekommen, das mich tief berührt. Ein Kollege von der Stiftung Gedenkstätten hat es geschickt, der enge Kontakte in die Ukraine hat. Er ist mit dem Auto über die Grenze gefahren, um Anastasia Gulei, eine 1925 geborene Auschwitz-Überlebende, in Sicherheit zu bringen. Das Foto zeigt sie und ihre Tochter auf polnischem Gebiet. Auf so etwas kommt es gerade an.

 

Über Birgit Neumann-Becker
Birgit Neumann-Becker wurde 1963 in Görlitz geboren. Sie studierte Theologie in Halle (Saale), arbeitete als Pfarrerin, Religionspädagogin, Erwachsenenbildnerin und Supervisorin. Bereits als Schülerin war sie Mitglied der Jungen Gemeinde, später als Studentin bei „Frauen für den Frieden“, im ESG-Friedenskreis sowie bei Aktion Sühnezeichen. Seit 2013 ist sie Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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