Die Sehnsucht nach einem Durchstarten ist bei vielen Menschen groß, nicht zuletzt in der Generation der Kriegsenkel. Warum er jederzeit möglich ist, erklärt die Neurowissenschaft.
Vermutlich ahnte Christopher Scott nicht, was auf ihn einstürmen würde, als er in einer Facebook-Gruppe für Bassisten diese Frage stellte: „Ich liebe den Klang und das Aussehen eines Kontrabasses und überlege seit langem, ob ich das Instrument lernen sollte. Aber bin ich in meinen Mitt-Fünfzigern nicht zu alt dafür?“ Dann wünschte er sich noch ausdrücklich ehrliche Antworten – und musste nicht lange darauf warten. Nicht weniger als 52 waren es ein paar Stunden später, und der Unterton war unüberhörbar: Ob er noch ganz bei Trost sei, eine solche Frage zu stellen? Selbstverständlich sei er nicht zu alt. Oder habe er geplant, demnächst aus dem Leben zu scheiden?
Ein faszinierender Wortwechsel. Er zeigt, wie sehr wir die Jahre jenseits der 50 fürchten, weil sie sich als Lebensphase ohne echte Perspektive herausstellen könnten. Und wie sehr uns diese Vorstellung zugleich provoziert.
Ist ein Neubeginn jenseits der 50 möglich? Aber ja!
Wie Christopher Scott ergeht es ja vielen. Die Kinder sind aus dem Haus, der Ruhestand naht. Viele Menschen entdecken in dieser Phase ihres Lebens alte Leidenschaften neu, Musik, Malerei, Sprachen, Schauspiel, Kunsthandwerk. Oder sie fragen sich, ob sie nicht endlich ihren Job, der sie finanziert, aber nicht glücklich macht, gegen so etwas wie eine Berufung eintauschen sollten. Und natürlich fragen sie sich, ob dieser Neubeginn überhaupt noch möglich sei.
Die Kurzfassung der Antworten von Psychologen, Neurologen, Coaches, Musikwissenschaftlern oder Kunstpädagogen: Ja, das ist unbedingt möglich. Und es lässt sich Ungeahntes erreichen.
Tatsächlich?
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Viele Kriegsenkel sehnen sich danach durchzustarten
Die Sehnsucht danach ist groß. 35 Prozent der Teilnehmenden an meiner Umfrage zu Beruf und Karriere der Generation Kriegsenkel schrieben, sie wollten am liebsten noch einmal durchstarten, 36 Prozent waren sich unsicher. Ein bemerkenswerter Anteil. Zugleich notierten aber viele Teilnehmer:innen Glaubenssätze, die wir unschwer als potenzielle Blockade vor einem Neubeginn identifizieren können. Eine Auswahl:
„Ich bin nicht gut genug.“
„Zu mir kommt kein Mensch.“
„Ich würde gerne, schaffe es aber nicht.“
„Das ist doch brotlose Kunst.“
„Als Frau und Mutter habe ich keine Chance.“
Alte Glaubenssätze sind durch die Wissenschaft widerlegt
Was ich im Coaching oft erlebe: dass Menschen trotz negativer Glaubenssätze eine beeindruckende Lebensleistung erbracht haben. Für die ihnen freilich die Wahrnehmung fehlt. Da ihre Eltern ihnen kaum je Anerkennung gezeigt haben, fehlt ihnen das Zutrauen, sie sich selbst zu zollen. Knüpfen wir an diese Ressourcen an, beginnt sich zaghaft der Blick auf das Neue zu öffnen. Aber schon erscheint da die nächste Hürde – die Frage, ob die Chance nicht längst verpasst ist, wir nicht schon zu alt sind für einen echten Neubeginn.
Nein, sind wir nicht. Der Glaubenssatz „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ ist von der Neurowissenschaft widerlegt. Das Phänomen, um das es geht, nennt sich Neuroplastizität des Gehirns. Wir wissen heute, dass Gehirnzellen sich bis ins hohe Alter neu vernetzen und damit die Strukturen schaffen können für völlig neue Lernerfahrungen und Fähigkeiten. Der Start ist jederzeit möglich.
Wie die Neuroplastizität des Gehirns uns hilft
Bei Älteren dauert das lediglich etwas länger, erläutert Ulman Lindenberger, Professor für Entwicklungspsychologie und Geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung: „Wir haben uns die Erwerbsprozesse bei jüngeren und älteren Erwachsenen genau angeschaut. Sie können als Älterer mit regelmäßigem Üben eine Lernkurve erzeugen, die denen der Jüngeren sehr ähnlich ist. Das maximal erreichbare Niveau mag etwas niedriger sein, aber im Prinzip sind es exakt dieselben Vorgänge.“
Ältere Menschen sind heute deutlich leistungsfähiger
Ulman Lindenberger ist verantwortlich für die großangelegte Berliner Altersstudie, in der die körperlichen, geistigen und sozialen Bedingungen für ein erfolgreiches Altern untersucht werden. Sein Fazit ist ausgesprochen ermutigend: „Es bestand ja vor einigen Jahren die Befürchtung, dass der enorme Anstieg der Lebenserwartung mit einem Anstieg von vielen hochbetagten Menschen mit Demenz verbunden sein könnte. Das ist nicht eingetreten. Heute sind Menschen eines höheren Lebensalters geistig deutlich fitter als Menschen desselben Alters vor 20 Jahren. Dazu haben wir sehr solide Daten. Die kognitive Leistungsfähigkeit ist in diesem Zeitraum erheblich gestiegen. Und gleichzeitig geben die Menschen an, dass sie mit ihrem Leben deutlich zufriedener sind und mehr positive Gefühle im Alltag empfinden als die Vergleichsgruppe vor 20 Jahren.“
Das beste Rezept gegen Altern: Herausforderungen
Die Gründe seien vielfältig: bessere Ernährung, bessere Bildung, anregungsreichere Umgebung, Abgewöhnen von gesundheitsschädlichem Verhalten – viele kleinere Faktoren, die in ihrer Gesamtheit einen großen Unterschied machen. „Die heute Älteren sind in ihrer Gesamtsituation deutlich jünger als die Gleichaltrigen vor 20 Jahren“, fasst Lindenberger zusammen. Das beste Rezept gegen das Altern bestehe darin, sich anspruchsvolle Dinge vorzunehmen. Die Forscher am Max-Planck-Institut können anhand ihrer Daten sehen, wie der Alterungsprozess damit wirkungsvoll hinausgeschoben werden kann. „Die Leute sehen wirklich jünger aus“, sagt Ulman Lindenberger, „und das gilt auch für ihr Gehirn.“
Wer Sinn erlebt, wird im Schnitt sieben Jahre älter
Die eigenen Bewertungen über das Älterwerden haben entscheidenden Einfluss auf den Verlauf des Alterns. Menschen, die das Alter als eine erfüllte Zeit ihres Lebens erwarten und ansehen, leben im Schnitt sieben Jahre länger als solche, die vom Alter nichts erwarten. Sieben Jahre! Und ihre Chancen sind so groß wie noch nie. Es stehen zahlreiche Fähigkeiten und Ressourcen zur Verfügung, die sie aktiv in die neue Lebensphase einbringen können, beruflich, in der Zivilgesellschaft und privat.
Wie man mit 77 eine Bühnenkarriere startet
Über eine besonders bemerkenswerte Frau, die dafür ein perfektes Beispiel ist, habe ich eine Biografie geschrieben: Ruth Rupp. 1926 geboren, begann sie ihre Bühnenkarriere im zarten Alter von 77 Jahren. Im Jahr 2004 war es, als Ulrich Tukur sie für seine Inszenierung der „Dreigroschenoper“ auf die Bühne an der Hamburger Reeperbahn holte. Es wurden mehr als 100 Aufführungen. Und 17 Jahre später hat sich noch immer nicht der letzte Vorhang über ihre Karriere gesenkt. Sie singt weiterhin im Chor „Heaven Can Wait“ – Mindestalter für Mitglieder: 70 Jahre. Sie ist das älteste und mit 1,43 Meter das kleinste Mitglied.
Die 95jährige Ruth Rupp als faszinierendes Vorbild
Mit 77 eine neue Karriere beginnen, der Leidenschaft fürs Singen und das Theater noch einmal ganz neuen Raum geben? Ja, das geht. Es ist weniger einer Frage der Fähigkeiten, so meine Erfahrung. Es ist eine Frage der Haltung. Ruth Rupp hat stets ihre Aufgaben im Leben angenommen und durchgestanden – und über die Musik und das Theater schließlich zu sich selbst gefunden. Sie sagt: „Wenn ich vorher gewusst hätte, was auf mich zukommt, hätte ich behauptet: Das schaffst du nicht. Dann habe ich’s aber doch geschafft. Und es hatte alles seinen Sinn.“ Die heute 95jährige – ein Vorbild.
PS: Der Autor dieser Zeilen hat mit 54 seinen neuen Beruf erlernt, Coach und Seminarleiter, und den Kontrabass für sich entdeckt. Das vorläufige Resümee nach sieben Jahren: sehr gute Entscheidungen.