Kriegsenkel-Karrieren – viel Aufwand, wenig Erfolg?

Wie mit angezogener Handbremse: So empfinden viele Kriegsenkel ihren Berufsweg. Aber geht da noch etwas?
Kriegsenkel – Karriere im Schatten des Traumas

Wie mit angezogener Handbremse: So empfinden viele Kriegsenkel ihren Berufsweg. Aber geht da noch etwas?

Diese Formulierung von Sabine Bode ist ein Sinnbild des Lebensgefühls der Generation Kriegsenkel: Viele lebten ihr Leben wie mit angezogener Handbremse. Viele von uns empfinden, dass in ihnen ein ungenutztes Potenzial schlummert, das zu mehr Zufriedenheit und Erfolg auch im Beruf verhelfen könnte. Wenn wir uns denn trauen würden, es zu nutzen. Diesem Potenzial zur Entfaltung zu verhelfen, könnte das ganze Leben positiv beeinflussen, denn Lebens- und Arbeitszufriedenheit sind eng miteinander verbunden. Kompetenzen zu erarbeiten, das Selbstwertgefühl zu stärken und im Arbeitsalltag unsere Identität zu erleben ­– das sind wichtige Aspekte nicht nur des Berufswegs, sondern der Persönlichkeitsentwicklung insgesamt.

Wie aber fühlt sich ein Berufsweg an, der wie mit angezogener Handbremse zurückgelegt wurde?

Viel Kraftaufwand für wenig Erfolg

„Ich habe sehr viel Kraft gelassen für wenig Erfolg.“ So formuliert es eine Teilnehmerin der Umfrage „Kriegsenkel – Karriere im Schatten des Traumas“. Ich habe sie Ende Oktober 2021 online durchgeführt. Insgesamt 80 Teilnehmende beantworteten die 13 Fragen, 68 Frauen, 11 Männer und zwei Diverse. Zusätzlich habe ich zahlreiche Interviews geführt (und bedanke mich bei den Teilnehmer:innen sehr herzlich für ihre Offenheit). Die Verteilung der Geschlechtszugehörigkeit macht es deutlich: Repräsentativ sind die Ergebnisse nicht. Aber sie werfen ein interessantes Schlaglicht auf die schwierige Beziehung der Kriegsenkel zu Beruf und Arbeitssituation.

Wie unterm Brennglas kommen zentrale Themen in den Fokus, die diese Generation bestimmen: bindungsunfähige Eltern, die Bedürfnisse anderer nicht wahrnehmen können; ein großes Sicherheitsbedürfnis, einst von den Eltern eingeimpft; Glaubenssätze, die das Selbstvertrauen schwächen und eine erfolgreiche Karriere bremsen, wenn nicht blockieren; das Ringen um Selbstbestimmung; die bittere Erkenntnis, dass gerade im Beruf vieles nicht so gelaufen ist, wie es hätte laufen sollen. Aber auch das Gefühl vieler: Da geht noch etwas!

Das Karriere-Potenzial ausgeschöpft haben die wenigsten

Eine Auswahl der Umfrage-Ergebnisse:

  • Nur 5 Prozent stimmen der Aussage voll zu, in ihrem Berufsleben sei alles zu ihrer Zufriedenheit verlaufen; 61 Prozent dagegen zeigen sich eher bis deutlich unzufrieden.
  • Noch weniger, nämlich nur 4 Prozent, sehen ihr Karriere-Potenzial voll ausgeschöpft, 80 Prozent dagegen „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“.
  • 65 Prozent sehen ihr Berufsleben von Brüchen und Wechseln bestimmt.
  • Und nur 52 Prozent empfinden ihre Arbeit angemessen bezahlt.

Wie die Umfrage zeigt, spielten die Eltern eine wichtige Rolle bei der Berufswahl. Die Fragen nach ihrem Einfluss führt uns zurück in die 70er und 80er-Jahre und das damalige, stark hierarchisch geprägte Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, geronnen in dem Ausspruch: „So lange du die Füße unter meinen Tisch stellst, wird gemacht, was ich sage!“ Zugleich war die Erziehung stark von Rollenklischees geprägt.

„Das Abi brauchst du doch gar nicht“

In zwei Ergebnissen erleben wir das Spannungsfeld zwischen dem Desinteresse an den Bedürfnissen der Kinder und dem gleichzeitigen Anspruch, ihre Berufswahl zu dominieren:

  • 80 Prozent der Teilnehmenden sagen: „Meine Eltern haben meine Talente und Wünsche nicht gesehen und unterstützt.“ (Eine persönliche Bemerkung: Diese Zahl hat mich schockiert.)
  • Bei 39 Prozent beeinflussten die Eltern dennoch stark die Berufswahl, bei 23 Prozent versuchten sie es, wenngleich erfolglos.

Was das damals konkret bedeutete, zeigen Aussagen wie diese:

„Da ich mich geweigert habe, einen Beruf zu erlernen, der für eine zukünftige deutsche Hausfrau gut und wichtig ist, haben sie sich im Gegenzug geweigert meinen Lehrvertrag in einer Druckerei zu unterschreiben. Ich war noch keine 18.“
„Es hat keine Wahl gegeben, die Eltern haben das bestimmt: Einzelhandelskauffrau. Ich wäre lieber Handwerkerin geworden.“
„Mein Vater sagte: ‚Das Abi brauchst du doch gar nicht. Als ich es dann hatte, sagte er, ‚ein Studium bezahlen wir nicht.‘ Also habe ich Ergotherapeutin gelernt.“

„Das schaffst du sowieso nicht!“

Aber natürlich gab es auch die einvernehmlichen, die braven Entscheidungen im Sinne der Eltern, letztlich ein Ausdruck von Parentifizierung. Eine typische Kriegsenkel-Motivation, von Sabine Bode in ihrem Vorwort zu „Nebelkinder“ zitiert: „Ich muss alles tun, damit es meinen Eltern gut geht. Ich darf nichts tun, was ihnen Sorgen bereitet.“ Und natürlich gehört dazu die Wahl eines Berufs, der nach dem Verständnis der in der Not der Nachkriegsjahre Aufgewachsenen Sicherheit bietet. Etwas „Vernünftiges“ musste es sein, auf keinen Fall eine „brotlose Kunst“.

Den weiteren Berufsweg prägten die Glaubenssätze, die den Kriegsenkeln von früher Kindheit an vermittelt wurden. Ich zitiere aus den Ergebnissen der Umfrage:
„Du bist nicht gut genug!“
„Das schaffst du sowieso nicht.“
„Du willst zu viel!“
„Sei perfekt!“
„Sei bescheiden.“
„Pass dich an und fall nicht auf.“
„Nur wenn du etwas leistest, bist du etwas wert.“
„Arbeit, die Spaß macht, ist keine richtige Arbeit.“

Der Einfluss der Eltern wirkt lange nach

Im Ergebnis entstand daraus ein verunsichertes Lebensgefühl, eine gewisse Orientierungslosigkeit, wie sie diese Teilnehmerin beschreibt: „Erst sehr spät habe ich erkannt: Es war selten MEINE Wahl. Viel zu oft habe ich eben genommen, was und wo man mich zu brauchen schien.“ Ein Muster, das wohl in der Kindheit angelegt wurde. Auch im Elternhaus ging es ja in aller Regel um die Bedürfnisse der Eltern, häufig um ihre Bedürftigkeit. Als Ressource entstand daraus die Fähigkeit, sich um andere zu kümmern – die perfekte Vorbereitung auf helfende oder heilende Berufe.

Wie nachhaltig die Eltern den Berufsweg der Teilnehmenden geprägt haben, zum Positiven wie Negativen, wird deutlich bei der Verknüpfung mehrerer Antworten.

  • Haben Eltern stark Einfluss auf die Berufswahl genommen, wirkte sich das im Vergleich zu anderen Befragten negativ aus: Die Karriere ist stärker von Wechseln und Brüchen geprägt, der Glaube an den eigenen Erfolg war und ist geringer, das Karrierepotenzial wurde viel weniger ausgeschöpft.
  • Befragte, deren Eltern ihre Talente gesehen und gewürdigt haben –seltene Ausnahmen in der Umfrage –, sind im Rückblick mit dem Verlauf ihrer Karriere zufriedener, haben sich an ihren Arbeitsstellen wohler gefühlt und sehen sich angemessener bezahlt.

Das Überleben im falschen Beruf fordert Tribut

Aus anderen Diskussionen kenne ich die Vorbehalte, wenn es um die Verantwortung der Eltern geht. Nein, ich verkenne nicht das Bemühen um eine gute Zukunft für die Nachfahren, und eine Ausbildung als Erzieherin, Krankenschwester, Bankkauffrau erschien den Kriegskindern sicher und richtig. Ein Mann, der mit 16 eine Lehre bei der Post begann, erzählte: „Da dachten meine Eltern: Jetzt haben wir’s geschafft. Der Junge ist gut unterwegs.“ Wie der kreative Mann dort leiden würde, konnte sich keiner vorstellen. Aber es war auch kein Kriterium.

Oft, so zeigen die Ergebnisse und Interviews, folgten auf eine fremdbestimmte Berufswahl Jahre, manchmal Jahrzehnte des Ringens mit dem Beruf. Wie sich in dieser Aussage zeigt: „Meine Arbeit hat mir keinen Spaß gemacht. Ich habe meine Seele verkauft. Ich habe mich verbogen.“ Das Überleben im falschen Beruf forderte seinen Tribut, psychische und körperliche Erkrankungen waren nicht selten die Folge. Irgendwann wurde die Kündigung dann zur Notwehr, gipfelnd in dem Satz: „Da gehe ich nie wieder hin!“

Und jetzt?

Noch einmal durchstarten? 35 Prozent möchten das

Den Satz, „Ich würde am liebsten noch einmal durchstarten“, kommentieren

  • 35 Prozent mit „ja, das würde ich gerne“;
  • 36 Prozent mit „ich bin mir unsicher“;
  • 29 Prozent mit „nein, das möchte ich nicht“.

Die Gründe für eine Absage an den Neustart sind unterschiedlich. Aus dem Satz „zu oft schon Neues probiert…“ schimmert Resignation. Aber bei manchen gibt es schlicht keinen Anlass dazu. „Alles läuft zur Zufriedenheit. Wenn es das nicht mehr tut, so ändere ich die Umstände.“ Es mag ein Zufall sein, aber diese Aussage stammt von einem Mann.

Ein Neustart kann auch mit 60 gelingen

Was freilich ebenso deutlich wird: Die Älteren dieser Generation nähern sich der Rente. Manche erleben das als Anlass zur Einkehr. „Es ist an der Zeit, inneren Frieden zu schließen“, schreibt eine Teilnehmerin. Eine andere hat ihn offenbar gefunden. „Meine Interessen und Neigungen sind in meiner Familie stets ignoriert und bekämpft worden. Mit entsprechender Förderung wäre mein Berufsweg mit Sicherheit ganz anders verlaufen. Aber ich bin nicht mehr traurig. Vielmehr habe ich mir doch noch einen Berufsweg erkämpft, mit dem ich zufrieden bin – auch wenn ich in meiner Jugend von etwas ganz anderem geträumt habe.“

Dass ein Neustart auch in einem Alter gelingen kann, in dem andere mit ihrer Karriere abgeschlossen haben, zeigt diese knappe Antwort auf die Frage, ob sie noch einmal durchstarten möchte: „Tue ich, habe ab 1.1.22 eine neue Stelle.“ Geburtsjahr laut Fragebogen: 1961.

 

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