Ein Interview mit der renommierten Traumatherapeutin Luise Reddemann, die sich intensiv wie wenige andere in Deutschland mit den transgenerationalen Folgen des deutschen Erbes von Krieg, Holocaust und Vertreibung beschäftigt hat.
Frau Reddemann, wie erging es Ihnen, als Sie die Nachricht vom russischen Einmarsch in die Ukraine bekamen?
Luise Reddemann: Ich war entsetzt. Ich habe auch Angst gespürt. Aber ich habe gelernt, mich zu beruhigen. Ich merke schon, wie meine kindlichen Anteile angesprochen werden, wenn eine so furchtbare Nachricht kommt, aber ich kann sie beruhigen. Ich kann denen sagen, „ich bin da, ich bin groß, ich kann mich kümmern.“ Allerdings habe ich auch Informationen und Bilder, die Hoffnung wecken, wahrgenommen. Der Widerstand der Menschen in der Ukraine und auch andernorts beeindruckt mich sehr. Das kann Hoffnung nähren. Ganz offensichtlich weckt dieser Krieg auch Solidarität, Hilfsbereitschaft und Mitgefühl. In Köln haben die Menschen auf den Karneval verzichtet und stattdessen für die Ukraine demonstriert. Das hat mich sehr angerührt. Das sind tragende und verbindende Erfahrungen, die ein starkes Mittel gegen Angst sein können. Auch Empörung und Wut können geweckt werden. Und das wiederum kann uns, klug eingesetzt, stärken. Denn diese Emotionen helfen uns, bei uns selbst und unserer Lebendigkeit zu bleiben.
Als Deutsche tragen wir eine historische Verantwortung
Aber Sie sind schon besorgt?
Natürlich, das ist ja auch berechtigt. Wenn ich Putin so reden höre, kann mir das Angst machen. Dieser Mann scheint mir geistig und seelisch nicht gesund. Aber als deutscher Mensch spüre ich ebenso eine Verantwortung wegen des unsäglichen Leids, das die Deutschen im 2. Weltkrieg über das russische und ukrainische Volk gebracht haben. Deswegen fand ich das Zögern der Bundesregierung bei der Entscheidung für Waffenlieferungen absolut angemessen. Es war wichtig, dass im Bundestag vor dem Hintergrund unserer historischen Verantwortung diskutiert wurde.
Sind es kindliche Anteile, die das Handeln anleiten?
Ich erlebe derzeit, dass Menschen sehr alarmiert sind, schon Bargeld zuhause bunkern, sogar Pläne für eine mögliche Flucht vorbereiten. Wie wirkt das auf Sie?
Das respektiere ich. Jeder Mensch hat ein Recht auf seine eigene Art, mit diesem Schrecken umzugehen. Es sind vermutlich eher kindliche Anteile, die hier das Handeln anleiten. Ich habe das selbst erlebt anlässlich des ersten Golfkriegs, der meine Traumata als 1943 geborenes Kriegskind aktiviert hatte. Ich habe das in einer Therapie bearbeitet. Sie hat mir geholfenen, meine inneren kindlichen Ichs gut zu versorgen. Das hilft mir heute sehr. Und mein Bestreben ist es, aus einer erwachsenen Perspektive auf derartige Probleme zu blicken.
Wir sind hierzulande immer noch sicher
Wenn Sie als Therapeutin bei Patient:innen mit dieser Angst konfrontiert werden, was tun Sie?
Ich frage: „Könnten Sie mal schauen, ob sich darin etwas von Ihren Eltern widerspiegelt? Sind Ihre Eltern Kriegskinder? Was haben Ihre Großeltern Ihnen erzählt? Was haben sie erlebt? Haben Sie schon einmal nachgedacht, dass sich hier etwas wiederholen könnte, was Ihre Vorfahren erlebt haben?“ Ich habe großes Mitgefühl für diese Angst, es ist manchmal wirklich absurd, wie diese alten Dinge uns prägen können. Aber es hilft auch der klare Blick auf die aktuelle Situation in Deutschland – sie ist eine vollkommen andere! Wir sind hier immer noch in Sicherheit. Dafür können wir dankbar sein. Wir können uns darin üben wahrzunehmen, was jetzt wirklich mit uns selbst geschieht. Dass wir alte Erfahrungen in die Gegenwart übertragen, die nicht identisch ist mit der Vergangenheit, auch wenn es Parallelen gibt. Wir sind keine kleinen Kinder mehr, auch wenn wir uns manchmal so fühlen. Ich finde es hilfreich zu fragen: „Wie alt bin ich, wenn ich so reagiere?“ Und mir ist es als erwachsener Mensch wichtig zu überlegen, wie kann ich mich einsetzen.
Möchten Sie das Kriegserbe in Ihrer Familie erforschen? Ich biete dazu Seminare an.
Distanzierung von Gefühlen macht wieder handlungsfähig
Das transgenerationale Erbe liegt offenbar ganz dicht unter der Oberfläche.
Es kann nicht anders sein. Bei allen Menschen löst ein Krieg entsetzliche Ängste aus, eigene oder transgenerationale. Es ist gut, wenn wir uns das klar machen. Wir sollten lernen uns auch zu mögen, wenn wir Angst haben. Sie ist ja berechtigt. Aber dann noch einmal innehalten, hinspüren – was ist das angemessene Handeln in Bezug auf das, was jetzt gerade ist? Wenn es mir dann immer noch angemessen erscheint, mich auf einem anderen Kontinent in Sicherheit zu bringen, dann muss ich das eben machen.
Meditation gegen heraufziehende Panik
Was kann ich tun, wenn ich bei mir Panik heraufziehen spüre?
Ich schätze eine Meditation sehr, bei der ich die Position des Beobachters, des inneren Zeugen einnehme. In dieser Haltung nehme ich wahr: ‚Da ist jetzt Panik.‘ Dann kann ich erkennen: ‚Ich bin mehr als meine Panik.‘ Ich habe diese Meditation oft mit meinen Patient:innen in der Klinik, aber auch in Seminaren eingesetzt. Sie stammt aus dem Buddhismus, nennt sich „Die Übung des inneren Zeugen“ und ist sehr hilfreich. In der Distanzierung von meinen Gefühlen kehrt eine gewisse Ruhe ein, und ich kann meine Situation klarer sehen und bewerten. So werde ich wieder handlungsfähig.
Panik – Überreaktion aufgrund alter Erfahrungen?
Wie reagiere ich angemessen, wenn ich Panik bei anderen erlebe, zum Beispiel älteren Menschen mit eigenen Kriegserfahrungen?
Zunächst das Leid und die Angst anerkennen. Aber auch hier hilft die Frage nach der Lebensgeschichte: ‚Werden da Erinnerungen an früher wach? Welche sind das?“ Im Gespräch kann es gelingen, eine Distanz zwischen den frühen Erfahrungen und der aktuellen Situation herzustellen. Wir können einladen zum genauen Hinschauen, zum Wahrnehmen von Unterschieden. Das kann uns ermöglichen, die Gefühle als Überreaktion aufgrund alter Erfahrungen zu identifizieren. Schon das nimmt ihnen etwas von ihrer Macht. Mir hat auch geholfen, mir klar zu machen, dass unsere Vorfahren im 20. Jahrhundert sogar zwei große Kriege, die viele, viele Leben gekostet und viel Leid gebracht haben, erlebt haben. Die Angst unserer Vorfahren kann noch in uns weiterleben.
Unseren Kindern eine Stütze sein
Welchen Umgang mit Kindern empfehlen Sie?
Unseren Kindern sind wir nur eine Stütze, wenn wir Wege finden, uns selbst zu beruhigen. Nicht durch Schönreden, sondern durch eine möglichst nüchterne Betrachtung dessen, was ist, und ein von Nüchternheit getragenes Handeln. Kleine Kinder benötigen andere Arten von Beruhigung als größere. Sie sollten vor allem erfahren, dass sie von den Erwachsenen beschützt werden, dass sie Geborgenheit in den Armen der Eltern erleben können. Gegenüber älteren Kindern können wir aussprechen, dass wir besorgt sind, und mit ihnen gemeinsam überlegen, was jetzt als nächstes zu tun ist. Ich bin sehr beeindruckt, wie sich die Menschen in der Ukraine jetzt mit kleinen und großen Aktionen unterstützen.
Katastrophisieren ist der falsche Weg
Wie bewerten Sie die Rolle von Medien? In einer Talkshow beschrieb ein Teilnehmer schon den Weg in den 3. Weltkrieg.
Dieses Katastrophisieren halte ich für den falschen Weg. Ich wünsche mir, dass wir immer genau prüfen: Was ist jetzt? Dass schlechte Nachrichten Aufmerksamkeit erzeugen, wissen wir natürlich. Aber in einer Situation wie dieser kommt es meiner Meinung darauf an, verantwortlich zu berichten, nüchtern und klar. Auch über mögliche Lösungen zu sprechen und zu schreiben. Nicht hineinsteigern, keine Hysterie auslösen. Bei Aristoteles gibt es den Begriff der phronesis: Weisheit in Bezug auf situativ kluges, besonnenes Handeln. Das sollten wir jetzt gemeinsam pflegen. Ich wünsche das unseren Politiker:innen, aber auch denen, die in der Öffentlichkeit stehen.
Zum Leben gehört auch das Beglückende
Viele fühlen sich geradezu eingesogen in all die Liveblogs, die diesen Krieg nachrichtlich begleiten. Was halten Sie davon?
Ich finde das hochproblematisch. Es geht nicht darum, Nachrichten zu verdrängen. Wir sollten informiert sein, um klar und abgewogen handeln zu können, aber die Nutzung der Medien begrenzen. Auch um Angst oder Panik vorzubeugen. Und lassen Sie uns im Bewusstsein halten, dass zum Leben viel Schmerzhaftes gehört, aber auch viel Beglückendes. Wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, sehe ich Schneeglöckchen, und sofort geht’s mir etwas besser. Aushalten lernen, dass es das Böse gibt, und dennoch all die guten Geschenke des Lebens wahrnehmen, daran orientiere ich mich.
Bücher von Luise Reddemann zum Thema
- Die Welt als unsicherer Ort
- Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt
- Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie
Über Luise Reddemann
Professorin Dr. med. Luise Reddemann, 1943 geboren, ist eine der renommiertesten Traumatherapeutinnen Deutschlands. Sie ist Psychiaterin, Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. Seit mehr als 50 Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Trauma und Traumafolgestörungen. Sie war Leiterin einer Klinik für Psychotherapie und psychosomatische Medizin und entwickelte die »Psychodynamisch imaginative Traumatherapie« (PITT) zur Behandlung von Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen.