Vortrag Kriegsenkel und ihre Kinder

Das dunke Erbe – die Kriegsenkel und ihre Kinder

Zehn Millionen Menschen wurden in Deutschland zwischen Mitte der 50er-Jahre und 1965, dem Jahr des Pillenknicks, geboren – die Babyboomer. Viele von ihnen sind Kinder der Kriegskinder: Kriegsenkel. Eine Generation, die allein aufgrund ihrer Größe Verantwortung für den Zustand unseres Landes trägt. Und damit die Vorwürfe ihrer Kinder, der Millennials, auf sich zieht. „Ok Boomer, bald seid ihr raus“, ist einer der Ausrufe der „Fridays for future“-Bewegung. Kein schönes Echo auf die Bemühungen um ein gutes Leben, um einen tragfähigen gesellschaftlichen Kompromiss. Die Radikalität der Jungen lässt ihre Eltern ziemlich blass aussehen.

Möchten Sie das Thema Kriegsenkel und seine Bedeutung für Sie persönlich erforschen?
Ich biete dazu Einsteigerseminare und eine Jahresgruppe an.

Kriegsenkel und ihre Kinder, Baby-Boomer und Millennials:  ein ganz normaler Generationenkonflikt? Nein, es steckt mehr dahinter. Parallel zu den soziologischen, ökonomischen und politischen Aspekten dieses Konflikts wirkt eine andere Dynamik, die alle noch lebenden Generationen in Deutschland miteinander verbindet: das dunkle Erbe des Krieges und der Nazi-Zeit. Deswegen scheint es mir ausgesprochen lohnenswert, das Verhältnis der Generationen auch aus psychoanalytischer Perspektive zu erforschen. Denn wie unheilvoll das unbewusste Erbe aus einer Zeit, die mehr als 75 Jahre zurückliegt, auch heute noch wirkt, ist vielen Menschen nicht bewusst. Es wurde und wird weitergetragen von Generation zu Generation. Auch die Millennials sind nicht verschont geblieben.

Eine zentrale Rolle spielen dabei die Kriegsenkel.

 

Ein Blitzschlag der Erkenntnis: Es ist kein individuelles Versagen

Die Entdeckung, ein „Kriegsenkel“ zu sein, trifft viele Menschen wie ein Blitzschlag der Erkenntnis. Natürlich haben sie gewusst, dass ihre Eltern während des Zweiten Weltkriegs Kinder waren, und sie erleben sich in derselben Zeitheimat wie all die anderen. Auch wenn es ihnen ein bisschen peinlich ist, können sie „99 Luftballons“ von Nena und „Mamma Mia“ von Abba auswendig mitsingen, aber dann stolpern sie in einem Buch, Film oder Medienbeitrag über dieses Kunstwort. „Kriegsenkel“. Und dort sehen sie auf einmal das ganze Bündel von Symptomen beschrieben, die sie nur zu gut aus ihrem eigenen Leben kennen: Bindungsprobleme mit Eltern und Kindern, innere Einsamkeit, rastlose Suche nach Sinn und Heimat, Ringen um Erfolg im Beruf.

Dieser Blitzschlag der Erkenntnis bewirkt Erleichterung und Schock zugleich. Erleichterung, weil das drängende Gefühl, irgendwie falsch in dieser Welt zu sein, ein schwarzes Schaf, ein seltsamer Vogel, sich auflöst in dem Staunen, dass es offenbar Millionen Menschen genauso oder ähnlich geht. Dass es kein individuelles Versagen ist, sondern die Prägung einer Generation. In Seminaren oder bei Vorträgen erleben sie dann, wie die Gesichter ihrer Gegenüber in Wiedererkennen aufleuchten, wenn sie aus ihrer belasteten Kindheit und Jugend erzählen, von der Sehnsucht, endlich irgendwo anzukommen und den aktuellen Problemen mit den Eltern. Mitgefühl und Interesse statt Abwehr und Missbilligung – eine ungewohnte Erfahrung.

 
 

Viele Kriegsenkel haben in ihren Familien Härte und Grausamkeit erlebt – auch dies ein emotionales Erbe. Foto: iStock

 

Vererben wir die sadistischen Anteile unserer Vorfahren?

Aber die Entdeckung, ein Kriegsenkel zu sein, ist auch ein Schock. Zu lernen, wie geradezu determinierend die Geschichte der Großeltern und Eltern für das eigene Leben sein kann, widerspricht unserem Selbstkonzept als Subjekt, das sein Leben souverän nach eigenen Vorstellungen gestaltet. Dass der Zweite Weltkrieg, die Nazizeit, der Holocaust, dass Flucht und Vertreibung und die Verstrickung der Vorfahren darin im 21. Jahrhundert noch so wirkmächtig unser Dasein beeinflussen, ist bedrückend und schwer verständlich. Auch das Wissen, dass diese negativen Prägungen kommenden Generationen vererbt werden können, steht drohend im Raum. Die Forschungsergebnisse, die eine Weitergabe dieser Erfahrungen beweisen, sind für viele, die sich als Kriegsenkel entdeckt haben, schockierend. „Wenn wir das geerbt haben – was haben wir unseren Kindern vererbt? Auch die sadistischen Anteile unserer Vorfahren?“ Es sind bange Fragen, die ich immer wieder gestellt bekomme.

 

Töchter und Enkelinnen von SS-Männern berichten

Seit einigen Jahren leite ich für den Verein Kriegsenkel e.V. Seminare mit dem Titel „Kriegsenkel – Annäherung an das Thema einer Generation“. Einer dieser Samstage ist mir in besonderer Erinnerung geblieben. Die Spannung im Raum war mit Händen zu greifen, und der Grund dafür wurde gleich zu Beginn deutlich: Vier Teilnehmerinnen berichteten davon, dass ihre Großväter oder Väter Mitglieder der SS gewesen waren. Als die Reihe an die vierte kam, brach sie in Tränen aus. Sie erzählte von einer Haussuchung des SEK bei ihrem 93jährigen Vater vier Wochen zuvor. Verzweifelt war sie und hin und hergerissen zwischen der Sorge um den hinfälligen Mann und ihrer Abscheu über seine Vergangenheit als Wachmann im KZ.

Ob sie überhaupt in das Seminar kommen solle, hatte mich eine andere Teilnehmerin Tage zuvor am Telefon gefragt. Ihr Leben sei aus den Fugen geraten, seit sie im Nachlass des Großvaters Unterlagen über seine SS-Täterschaft gefunden hätte. Wie darüber sprechen – und das auch noch im Kreis von völlig Unbekannten? Ob ein solches Treffen überhaupt der geeignete Rahmen sei? Ja, das war es. Der Mut der Töchter und Enkelinnen der SS-Männer, sich zu offenbaren, schuf eine Atmosphäre der Intimität, wie sie zwischen Menschen, die sich zum ersten Mal begegnen, selten ist. Wir erlebten Mitgefühl, Resonanz und den Wunsch zuzuhören, statt zu urteilen. Es war eine heilsame Erfahrung.

 

Heilsame Erforschung der Familiengeschichte

Das Interesse der Kriegsenkel an der Aufarbeitung der belasteten Familiengeschichten ist groß. Immer mehr Bücher erscheinen, die Nachfrage nach den Kriegsenkel-Seminaren wächst kontinuierlich. Dutzende hat Kriegsenkel e.V. bereits veranstaltet, die allermeisten ausgebucht. Zu Vorträgen kommen hunderte Zuschauer. Jährlich gehen immer noch etwa 40 000 Anfragen beim Bundesarchiv und 30 000 beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ein, mit denen Nachfahren die Geschichte ihrer Soldaten- oder Nazi-Väter und Großväter aufzuklären versuchen. Der Blick in die Akten ist nicht selten schockierend – aber letztlich wirkt es doch entlastend, das Schweigen über diese Geheimnisse endlich gebrochen zu haben, die Schuld, die die Vorfahren auf sich geladen haben, endlich anzuschauen.

In Seminaren, Vorträgen und Tagungen erlebe ich es immer wieder: Es ist das persönliche Leid, das erkenntnisleitend wirkt. Ihm können wir, im Unterschied zu moralischen oder juristischen Kategorien, nicht entkommen. Es liegt nicht in unserer Hand, es „jetzt mal gut sein zu lassen“, „einen Strich darunter zu ziehen.“ So funktioniert das Unbewusste nicht, weder das individuelle, noch das kollektive. Das weiterhin wachsende Interesse an der Aufklärung der Familiengeschichte spricht dafür, dass immer mehr Menschen das entdecken. Sie wollen diese Gefühlserbschaften, wie Sigmund Freud sie nannte, endlich verstehen und sich davon befreien.

 

 

Familientreffen auf dem Soldatenfriedhof

 Als ich auf einem Soldatenfriedhof in Estland am Grab meines Onkels stand, kam ich nicht umhin zu fragen, was dieser 21jährige Mann hier, 1.850 Kilometer von zu Hause, eigentlich zu suchen hatte. Wer sich emotional berühren lässt, dem brennt sich ein „Nie wieder!“ in die Seele. Es war heilsam, diesen Onkel nach 72 Jahren emotional wieder in die Familie zu holen. Sein Tod auf dem Rückzug der Wehrmacht von Leningrad war in meiner Familie nie betrauert worden. Sein Zwillingsbruder, mein Vater, hatte sich nie bemüht, auch nur den Ort seines Grabs zu ermitteln. Es gab mit ihm auch kein Gespräch über den Irrsinn des Krieges. Obwohl selbst durch die Amputation des linken Unterarms kriegsversehrt, hinterfragte mein Vater den Krieg und das Militär nicht. Er blieb identifiziert. Als ich ihm Ende der 70erjahre eröffnete, ich würde den Kriegsdienst verweigern, sagte er: „Junge, das wirst du mir doch wohl nicht antun?!“ Ich wollte, und ich habe. Trotzdem dauerte es noch Jahrzehnte, bis ich begann, die Kriegsvergangenheit meiner Familie zu recherchieren. Der Impuls, der mich trieb: das drängende Gefühl, dass mein Leben anders läuft, als es sollte.

Die Erinnerungsarbeit führte mich in den Eichborndamm 179 in Berlin. Dort, in einer ehemaligen Munitionsfabrik, hat die „Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“, heute Teil des Bundesarchivs, ihren Sitz. Sie ist heute Teil des Bundesarchivs. 56 Kilometer Akten lagern dort, und zwei Karteikarten lagen vor mir auf dem Tisch: „Rohde, Gerhard“ und „Rohde, Kurt“. Penibel ist notiert, wo die Brüder im Kriegsdienst waren: zunächst bei Kopenhagen, dann auf der Krim, dort erkrankt an Scharlach. Der eine, Kurt, wurde früher gesund. So trennten sich ihre Wege. Gerhard überlebte, zweimal schwer verletzt, und gründete eine Familie. Kurt überlebte nicht. Der Eintrag auf der Karteikarte: „verstorben am 13.03.1944, um 4.10 Uhr im Feld-Lazarett 11, Wesenberg. Grablage: Soldatenfriedhof Wesenberg/Estland, heute Rakvere.“ Mithilfe der Informationen über die Einheiten der Brüder schrieb ich eine Mail-Anfrage an die für Kriegsverbrechen zuständige Außenstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg. Mit trockenem Mund schickte ich sie ab, erleichtert las ich die Antwort: keine Erkenntnisse.

Das Dunkle in der Psyche: nicht-intergrierte Persönlichkeitsanteile der Eltern, die auf die Kinder übertragen werden. Foto: iStock

 

Das Dunkle in der Psyche

Wie bedeutsam diese Familiengeschichte für mein eigenes Leben war und ist, habe ich erst spät verstanden. Die Psychoanalytikerin Angela Moré erklärt die transgenerationale Weitergabe von belastenden Erfahrungen mit „Introjekten“, nicht-integrierten Persönlichkeitsanteilen der Eltern, die auf das Kind übertragen werden und „im Erleben, in Träumen, Phantasien und Affekten wirksam sind, sich aber dem Verstehen entziehen.“ Gleichsam am Bewusstsein vorbei steuern sie das Verhalten, äußern sich in psychischen oder psychosomatischen Symptomen, werden in unbewusst hergestellten Situationen aufs Neue inszeniert. „Schicksalhaft“ nennt Angela Moré dieses Erbe der Erfahrungen von Krieg, Verfolgung, Vertreibung und Völkermord. Sie warnt: „Wo die Aufarbeitung nicht oder nur unvollständig gelingt, wird die Gefühlserbschaft zur Last auch noch für die Enkel:innen und Urenkel:innen.“

 

Was fehlt: der Blick in die Zukunft

Diese Perspektive auf die Zukunft freilich fehlt bisher in der Literatur zu den Kriegsenkeln. Ob in der Forschung dazu oder in der literarischen Aufbereitung persönlicher Erfahrungen: Der Blick geht in aller Regel zurück. Viele dieser Generation sind immer noch gefangen in der Verstrickung mit ihren Eltern. Das scheint mir kein Zufall: Kriegskinder sind oft Virtuosen darin, ihre Nachkommen im Bann der eigenen Bedürftigkeit zu halten. Aber selbst in der Abgrenzung von ihnen, die im Kontaktabbruch münden kann, lösen sich viele Kriegsenkel nicht aus dem Bild, sie hätten ihr Lebensglück und Potenzial den unerfüllbaren Anforderungen der Eltern geopfert. Selbst der Blick auf die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen fällt ihnen schwer. „Ja, natürlich bin ich verantwortungsbewusst, kann durchhalten und organisieren. Aber ist das nicht normal? Und darüber reden? Eigenlob stinkt doch, hat mein Vater immer gesagt.“

So bleibt der Aufbruch in eine verheißungsvolle Zukunft im Ansatz stecken. Was zudem leicht aus dem Blick gerät: Wie geht es eigentlich den eigenen Kindern inmitten dieser Verstrickung? Nein, ich möchte sie nicht „Kriegsurenkel“ nennen, wie es oft geschieht. Ich finde es an der Zeit, diese und die nächsten Generationen von diesem Begriff und seinen Konnotationen zu befreien. Dazu gehört freilich mehr, als nur den Krieg aus der Bezeichnung zu tilgen. So schmerzhaft es sein mag – wir können uns die Recherche einer oft grauenhaften Vergangenheit der Familie nicht ersparen, wenn wir den nächsten Generationen nicht wieder jene Last aufs Leben legen wollen, unter der wir schon geächzt haben.

Den Grund dafür erklärte die Psychoanalytikerin Erika Krejci: „Keine Generation ist imstande, bedeutsame seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen. Jeder Mensch besitzt die Fähigkeit, ‚psychische Qualität‘ nicht nur bei sich selbst, sondern auch beim anderen bewusst oder unbewusst wahrzunehmen. Kinder bemerken also auch durch das Schweigen der Eltern hindurch, wenn die Eltern mit sich nicht eins, wenn sie gespalten sind oder Verdrängtes von ihrem Bewusstsein fernhalten, seien es nun traumatische Erlebnisse, unbetrauerte Verluste oder Schuldgefühle. Auch der Nichtkommunikation kann man zuhören. Wenn die Kinder durch das Verstummen hindurch Erfahrungen aus abgespaltenen Persönlichkeitsanteilen in sich … aufnehmen müssen, so werden sie in bestimmten Bereichen innerlich zu ihren Eltern.“

 

Alte Dynamiken der Herkunftsfamilien bleiben aktiv – gerade wenn man versucht, sie zu verdrängen. Foto: iStock

 

Verdrängtes löst sich nicht auf, sondern bleibt toxisch

Machen wir uns nichts vor: Auch wenn Krieg, Nazizeit, Holocaust, Flucht und Vertreibung viele Jahrzehnte zurückliegen, wenn sich viele Kriegsenkel hingebungsvoll um eine intensive Bindung zu ihren Kindern bemüht haben, wenn Gewalt in der Familie heute unter Strafe steht und wir einen offenen, respektvollen Umgang der Generationen untereinander als richtig erkannt haben, sind alte Dynamiken immer noch aktiv. Bindungsmuster in Familien können viele Generationen überdauern. Verdrängtes löst sich nicht auf, sondern bleibt toxisch. Von den Tätern einst als strenges Geheimnis gehütet, finden diese Anteile doch einen Ausdruck in den Beziehungen zu den Nachkommen, als Ahnungen von etwas Dunklem, Bedrohlichem, Grauenerregendem.

Die Kinder der Kriegsenkel spüren diese Anteile, die sie als fremd wahrnehmen, in sich, nehmen sie gleichsam als Besetzung wahr, und machen sich auf, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Sie stürzen sich geradezu manisch in Projekte zur Dokumentation des Holocaust, brechen gegen massive innere Widerstände auf zu einer Wanderung zu den pommerschen Heimatorten der Großeltern oder engagieren sich in der Pflege von Kriegsgräberstätten. Späte Wiedergutmachung – von den Eltern meist versäumt. „Das Leben ist kein Ponyhof“, haben die ihnen erzählt, auch dieser Glaubenssatz ein transgenerationales Erbe.

Die Langzeitfolgen verdrängter Schuld oder unbearbeiteter Traumata können dramatisch sein, auch Jahrzehnte später noch. Es ist in umfangreichen Studien belegt, wie eng der Zusammenhang zwischen belastenden Erfahrungen der Kindheit und späteren Gesundheitsrisiken, körperlichen und psychischen Erkrankungen ist. Die Traumatisierung in der Kindheit zeigt möglicherweise erst viele Jahre später ihre verheerende Wirkung. Aber die Zusammenhänge sind den Patienten – und auch den Ärzt:innen sehr häufig nicht bewusst.

 

Nur die Hinwendung zu den Gefühlen ändert wirklich etwas

Auch deswegen spricht mir eine Aussage der Psychotherapeutin Katharina Ohana, selbst Kriegsenkelin, aus der Seele. Ich zitiere sie in jedem Seminar: „Wir sind nicht mehr so richtig jung, doch alt sind und fühlen wir uns auch noch nicht: Jetzt ist noch Zeit, etwas zu ändern. Die Wiederholungsmuster sind längst offensichtlich. Und wer nicht den Rest seines Lebens an die fremdbestimmenden Mächte in seinem Unbewussten verlieren will, der schaut sich spätestens jetzt an, warum sich so viele Sehnsüchte unerfüllt aufgestaut haben. Und warum das Leben nicht so geworden ist, als wir damals aufbrachen, es zu erobern.“

Jetzt ist noch Zeit, etwas zu ändern! Es sind die Kinder der Kriegsenkel, die gerade aufbrechen, ihr Leben zu erobern. Sollten sie es nicht unbeschwerter tun können? Traumata können geheilt werden. Wenn wir uns den Gefühlen stellen, die wir jahrzehntelang verdrängt und eingesperrt haben, dann ist mindestens Linderung, wenn nicht Heilung möglich – so schmerzhaft der Prozess sein mag. Und so schwierig, denn dieses Fühlen wurde vielen von uns, zumal den Männern, ja verboten. Es ist ein verhängnisvoller Glaubenssatz, der hier wirkt: Man könnte die Dinge einfach mal mit dem Kopf, mit dem Verstand regeln, ganz sachlich besprechen. Aus der Therapie- und Coaching-Forschung wissen wir, dass kognitive Einsichten keinen großen Einfluss auf die Verhaltenssteuerung haben. Der Verstand hilft uns nur sehr begrenzt. Etwas intellektuell begriffen zu haben, ist natürlich wichtig, kann aber bestenfalls ein Anfang sein. Wenn wir unser Erleben und Verhalten nachhaltig ändern wollen, gelingt das nur über die Hinwendung zu unseren Gefühlen, indem wir lernen, sie wahrzunehmen, sie zu verstehen und ein Bewusstsein dafür zu bekommen, welche Gefühle wir im Kontakt mit unseren Familien haben – und warum.

 

Die Transformation der Beziehungen

Und wieder zeigt sich eine Aufgabe: bei allen Konflikten über Anschauungen nicht die Beziehung zu verlieren. Auf einer tieferen Ebene ist das Trauma eine Störung der Beziehung, und in der Beziehung kann es sich auflösen. So individualistisch wie unsere Gesellschaft zu sein vorgibt, haben wir letztlich alle dieselben Bedürfnisse: Wir wollen Liebe, Wertschätzung, Anerkennung, Solidarität, Unterstützung, Gemeinschaft. Und wenn wir erleben, dass unsere Bedürfnisse ganz normal sind, dass wir nicht falsch, sondern richtig damit sind, kann Heilung beginnen.

 

Kriegskinder und Kriegsenkel – eine schwierige Beziehung Kriegsenkel und Kriegskinder – oft eine schwierige Beziehung. Im Dialog kann sie sehr gewinnen. Foto:iStock[

 

Wissenwollen wider den Pakt des Schweigens

In der Perspektive auf das Verhältnis der Kriegsenkel zu ihren Eltern, formulierte Erika Kreyci, brauche es das anteilnehmende Wissenwollen der Kinder, um die Sprachlosigkeit der Eltern zu lindern, die in Abwehr- und Verteidigungshaltungen gefangen sind. „Viele aus der Elterngeneration wollten keineswegs befragt werden, und die Kinder ihrerseits wussten nicht, wonach und wie sie fragen sollten und hatten auch nie gelernt, darauf zu vertrauen, dass es heilsame Anteilnahme gibt. Vielmehr gab es in vielen Familien eine Art Pakt des Schweigens, so als wäre Schweigen die verständnisvolle Schonung des anderen.“

Mir scheint diese Haltung des anteilnehmenden Wissenwollens ein Vorbild zu sein, wie wir Kriegsenkel uns unseren Kindern zuwenden können. Wann sind sie in einem Alter, in dem sie für diese Themen empfänglich sind? Was interessiert sie an der Familiengeschichte, auch an den dunklen Kapiteln? Wie erleben sie sich in dieser Tradition? Welche Schatten gilt es auszuleuchten? Das können Inhalte dieses Dialogs sein.

 

„Man muss in der Gegenwart ankommen“

Die Weitergabe unseres dunklen Erbes zu beenden und damit einer freieren Zukunft Raum zu geben – das ist das Ziel. Die Traumatherapeutin Luise Reddemann, Kriegskind und Tochter einer Nazi-Familie, hat diese Aufgabe als ihre Berufung erlebt. Sie sagt: „Das ist die wichtige Botschaft für alle, die sich diesem Thema zuwenden! Ihr könnt sehen, was da war. Es geht darum zu verstehen: So war’s halt. Es war nicht schön, ich hätte mir etwas anderes gewünscht. Aber so war’s eben. Dann ist Trauern wichtig, aber irgendwann muss es auch damit gut sein. Denn jetzt könnt ihr mit euch selbst liebevoll sein, ihr könnt mit euren Kindern liebevoll sein. Ihr könnt ihnen sagen, dass ihr bedauert, was ihr aufgrund eurer Prägungen anders gemacht habt, als es richtig gewesen wäre. Das finde ich mindestens so wichtig, wie sich immerfort mit der Vergangenheit zu befassen. Zu schauen: Was hat es aus mir gemacht – und was möchte ich jetzt an mir verändern. Das ist der nächste Schritt. Man muss in der Gegenwart ankommen!“

 

Jetzt ist noch Zeit, etwas zu ändern

Es ist ja nicht so, dass dort nicht genug Aufgaben warten, derer man sich annehmen könnte, ja sollte. Vielleicht helfe den Babyboomern ja die anstehende Rente, lästert die 21jährigen Autorin Yasmine M’Barek: „Da finden sie endlich Zeit, um über den Generationenvertrag nachzudenken.“ Sie „müssen sich nicht für unsere Zukunft interessieren. Sie sind und bleiben die privilegierteste Generation ever, die in Frieden scheiden darf. Wir sind angewiesen auf ihren guten Willen und müssen deshalb ein bisschen nachsichtig sein.“ Um die Welt noch vor dem Hitzetod zu retten. Durch die schön formulierte Häme hindurch ist die Wut auf die Elterngeneration deutlich zu spüren. Der Vorwurf: Ihr hinterlasst uns eine beschädigte Welt.

Kommt uns das irgendwie bekannt vor? Jetzt ist noch Zeit etwas zu ändern.

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