Viele Kriegsenkel hadern mit ihrer Familiengeschichte und wissen nicht, wie sie Licht ins Dunkel der Vergangenheit bringen können. Das ist eines der Themen in meinen Einsteigerseminaren für Kriegsenkel e.V.
„Es ist ein Sommertag wie gemalt. Ein paar Schleierwolken stehen über Rakvere am Himmel, es ist 27 Grad warm, und ein sanfter Wind weht über die von Eichen bestandene Wiese. Das Gras ist eine Weile nicht gemäht worden, die Gänseblümchen blitzen heraus. Wir betreten das von einer flachen Sandsteinmauer eingefasste Viereck. In einiger Entfernung ragt ein großes Eichenkreuz auf, das Symbol für die Bedeutung dieses Ortes: Hier sind Menschen begraben. Links und rechts neben dem Kreuz liegen zwei große Platten aus schwarzem Granit. Und auf der rechten, etwa in der Mitte, finden wir die Gravur: „ROHDE KURT UNTEROFFIZIER * 18.5.1922 † 13.3.1944“.
Wir verneigen uns und verharren in Stille. Der 18. Mai 1922 ist uns nur zu gut vertraut. An diesem Tag wurde auch unser Vater, Gerhard Rohde, geboren. Kurt war sein Zwillingsbruder, unser Onkel, den wir nie kennengelernt haben. Meine Schwester schüttet ein Häufchen Heimaterde an den Sockel der Granitplatte. Sie stammt aus dem Garten, in dem Kurt einst mit seinen vier Geschwistern spielte. Sie leben alle nicht mehr, und keins von ihnen war je hier. 72 Jahre dauerte es, bis Kurt von seiner Familie besucht wurde.
Der Weg nach Rakvere, das früher Wesenberg hieß, war weit. Er führte 1850 Kilometer von Hamburg durch Deutschland, Polen, Litauen, Lettland und Estland zu diesem Städtchen auf halber Strecke zwischen der estnischen Hauptstadt Tallinn und der russischen Grenze an der Narva. Aber noch unendlich viel weiter war der Weg durch die Zeiten. Nicht nur die Mauer in Berlin und der Eiserne Vorhang mussten fallen, sondern auch die Mauern der Verdrängung.“
So beginnt meine Reportage über unseren Besuch am Grab unseres Onkels auf der Kriegsgräberstätte in Rakvere, Estland. Er liegt jetzt drei Jahre zurück. Seither hat sich vieles in meinem Leben zum Positiven verändert. Und dasselbe höre ich von den Teilnehmer*innen in meinen Seminaren für den Kriegsenkel e.V.
Wer sich aufmacht, die Wurzeln seiner Familie nicht nur zu recherchieren, sondern auch vor Ort zu erkunden, kann auf einmal eine innere Ruhe erleben, die verblüfft. Ein Mitglied der Familie wird nach Jahrzehnten endlich nach Hause geholt – so habe ich es empfunden. Teilnehmer*innen erzählen, sie fühlten sich wie endlich angekommen. Obwohl sie an diesem Ort in Pommern doch noch nie zuvor gewesen waren. Es ist in der ehemaligen Heimat der Familie offenbar eine Kraft geborgen, mit der wir uns verbinden können.
Wovon die Teilnehmer*innen auch berichten: Sie wurden fast ausnahmslos freundlich empfangen. Ja, manche konnten sogar das Haus betreten, aus dem die Vorfahren einst mit Gewalt vertrieben wurden – und erlebten eine Gastfreundschaft, die sie tief berührte. Das, scheint mir, ist wahrer Frieden, im Außen wie im Innen.
Wie können wir uns auf den Weg machen? Wie und wo kommen wir an wichtige Informationen? Was führt uns zu den Wurzeln der Familie – und was bedeutet es für das Familiensystem, ihnen nachzuspüren? Das sind einige der Themen in meinen Workshops.
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