Reportage über eine ereignisreiche Tagung zur Biografiearbeit und ihren transgenerationalen Perspektiven vom 22. bis 23.9.2017 in Siegen
Ein Mann hockt kraftlos auf dem Boden, zwei Frauen ziehen in entgegen gesetzter Richtung an seinen Armen. Eine dritte lehnt sich an ihn, eine weitere liegt vor ihm auf dem Boden. Mit Schrecken geweiteten Augen, die rechte Hand vor dem Mund, schaut eine Betrachterin auf die Gruppe herunter, während ein zweiter Mann mit ausgestrecktem Arm den Zeigefinger auf den Hockenden richtet. Dieser zweite Mann – bin ich.
„Living Sculpture“ ist der Name des Workshops, in dem sich all das zuträgt. Er ist Teil der Tagung „Biografische Erbschaften. Transgenerationale Perspektiven in der Biografiearbeit“ vom 22. bis 23. September 2017 in Siegen, die sich indisziplinär den vielfältigen Aspekten der angeleiteten Arbeit an der eigenen Biografie widmet. Die Düsseldorfer Psychoanalytikerin Dr. Elke Horn leitet unsere Gruppe an, eine lebende Skulptur zu unserer biografischen Verbindung mit dem Kriegserbe unserer Familien zu bilden. Zuerst erzählt jeder von seiner eigenen Betroffenheit, und es sind vertraute Themen: Nazi- und sozialistische Vergangenheit, Desertion, Gewalterfahrung, sexueller Missbrauch, Sprachlosigkeit, Parentifizierung.
Ein Workshop „mit Selbsterfahrungscharakter“ ist angekündigt. Was das bedeutet, erleben wir jetzt wuchtiger als vielleicht gewünscht. Denn eine unwiderstehliche Dynamik nimmt uns gefangen, sobald der erste Teilnehmer sich auf den Boden sinken lässt. Wie ich zu der Geste komme, mit ausgestrecktem Finger auf ihn zu zeigen, kann ich gar nicht sagen. Sie steigt einfach in mir auf, gegen alle Konditionierungen, die mir früher eingetrichtert wurden: „Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute!“ Das Herz klopft mächtig dabei, den Arm nicht sinken zu lassen.
Luise Reddemann spricht über „Biografische Erbschaften“
So wuchtig sind nicht alle Erfahrungen der Tagung, aber bemerkenswert sind sie allemal. Denn die Rednerliste der Tagung, organisiert von der Uni Siegen und dem „Fachverband Biografiearbeit“, kurz FaBia e.v., ist ebenso vielfältig wie hochkarätig. Luise Reddemann eröffnet das Programm mit einem sehr persönlichen gehaltenen Vortrag über Last und Ressource der transgenerationalen Weitergabe.
Die Traumatherapeutin, 1943 geboren, berichtet von ihrem Nazi-Elternhaus, ihrer Empörung über die Nachkriegskarrieren prominenter Psychologen, die tief in den Nationalsozialismus verstrickt waren, und über das Aufbrechen tief verinnerlichter Schweigegebote der Generation der Kriegskinder. Grund zu Optimismus sieht die Reddemann aber auch: „Bei meinen Enkeln kommt mehr Leichtigkeit. Die sind 21 und 23 und kennen die Geschichte sehr gut. Aber die sind trotzdem vergnügt. Das war ich in ihrem Alter nicht.“
Wie heilsam Biografiearbeit sein kann, deutet die Therepeutin an. Sie berichtet, dass leichte Demenz bei Älteren sich durchaus als Posttraumatisches Belastungssyndrom erweisen kann – und dagegen ist die angeleitete Arbeit an der eigenen Biografie ein wirksames Mittel. Wie auch in der Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten, mit alten Menschen sowie mit Pflege- und Adoptivkindern. Das eigene Leben anzuschauen, nicht nur seine Tiefen, sondern auch die Höhen und Erlebnisse besonderer Selbstwirksamkeit, festigt die Identität, trägt bei zur Sinnstiftung und hilft dem Gedächtnis, sich neu zu organisieren. (Ich habe zudem ein Interview mit Luise Reddemann zur transgenerationaler Weitergabe von Traumata geführt)
„Deutschland ist eine posttraumatische Gesellschaft“
Dabei sind wir nicht nur als Individuen angesprochen, sondern auch als Teil der Gesellschaft. Wie wirksam „kollektive Gefühlserbschaften des Nationalsozialismus“ heute immer noch sind, analysiert Elke Horn dann in ihrem Hauptvortrag und bringt Beispiele dafür, wie stark Gefühle von Schuld und Scham uns immer noch bestimmen. Deutschland sei eine posttraumatische Gesellschaft. Was früher stattgefunden habe, werde heute in der Psyche neu erlebt. Ihre Erkenntnis: „Veränderung ist nur möglich, wenn ich mich selbst verorte und berühren lasse.“
Das hatten einige von uns tags zuvor in ihrem Workshop erleben können. Eine „living sculpture“, entwickelt in der Tradition der systemischen Familientherapeutin Virginia Satir, löst bei den Beteiligten Reaktionen aus, die ihrem Nachdenken über das Thema häufig nicht zugänglich ist. Was meine Geste bedeutet, intuitiv und ohne Nachdenken eingenommen, steigt erst langsam in mir auf. Es ist eine Botschaft an meine Herkunftsfamilie: „Ihr wart nicht nur Opfer, ihr wart auch Täter. Suhlt euch nicht in eurer Opferrolle, sondern übernehmt endlich die Verantwortung auch dafür, was ihr getan habt.“ Ein überraschender Moment der Klarheit. Zuerst nicht leicht auszuhalten, aber dann – eine Befreiung.
Und Auslöser für Kontroversen in der anschließenden Runde dazu. Eine Frau fühlt sich an ihren Vater erinnert, der nie wirklich die Verantwortung für seine Kinder übernommen habe, vor allem nicht für den Sohn, der später Suizid beging. Eine andere Frau kritisiert: „Flüchtlingen begegnet ihr voller Mitgefühl, aber den eigenen Eltern gegenüber seid ihr erbarmungslos.“
Nachdenklich gehen wir auseinander. Ein weiterer wertvoller Moment einer wichtigen Tagung.
Einen ausführlichen Report über Biografiearbeit, „Den Faden des eigenen Lebens erkennen“, habe ich für die Zeitschrift Psychologie Heute geschrieben. Lesen Sie weitere Blog-Beiträge zum Thema Kriegsenkel.
Ich biete im Coaching Gespräche dazu an.