Warum sind Veränderungen eigentlich so mühsam? Und warum hilft es am meisten, erst einmal jeden Plan aufzugeben und in der Gegenwart anzukommen? Teil 1 einer kleinen Reihe darüber, wie wir uns aus alten Gewohnheiten befreien und ein neues Lebensgefühl etablieren können.
Menschen lieben Gewohnheiten. Wie herrlich, ganz entspannt auf Autopilot durchs Leben zu gleiten! Das liegt in der Struktur unseres Gehirns. Immer alles zu machen wie gewohnt, fordert unserem Stoffwechsel den geringsten Einsatz ab. Jede Veränderung dagegen – und zumal jede grundsätzliche! – ist für den Stoffwechsel „richtig teuer“, wie der Gehirnforscher Gerhard Roth bildkräftig formuliert. Sie kostet Kraft, womöglich viel Kraft. Kein Wunder also, dass wir Veränderungen meiden.
Natürlich kennen wir dennoch dieses Gefühl: „Ich müsste eigentlich …“ Da bedrängt uns etwas, entwickelt sich eine Unzufriedenheit, wächst sich aus zum Leidensdruck. Ja, wir müssten eigentlich die Ernährung umstellen, wieder Sport machen, stärker unserer Kreativität Ausdruck verleihen. Oder Next Level: den Job wechseln, endlich ein eigenes Unternehmen aufmachen. Oder, im Privaten, das Verhältnis zur Familie neu definieren. Vielleicht auch die ganz große Nummer: das Leben von links auf rechts drehen? Ergänzen Sie einfach, was Ihnen aktuell auf der Seele liegt.
Wie also gelingen Veränderungen, wenn unsere Gewohnheiten so mächtig sind?
Faszinierender Ansatz: das „Paradox der Veränderung“
Naturgemäß ist dieses Thema zentral für jede Art von Beratung, Coaching oder Therapie. Es gibt hunderterlei Ansätze dafür. Mich hat einer immer besonders fasziniert: das „Paradox der Veränderung“. Die Gestalttherapie hat es formuliert. Der Kern steckt in diesem zentralen Satz: „Veränderung geschieht, wenn jemand wird, was er ist – nicht wenn er versucht, etwas zu werden, das er nicht ist.“
Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie, formuliert den Zusammenhang so: „Wir sind alle mit der Idee der Veränderung beschäftigt, und die meisten gehen da heran, indem sie Programme machen. Sie wollen sich ändern. ‚Ich sollte so sein’ und so weiter und so weiter. Was aber tatsächlich geschieht, ist, dass die Idee einer vorsätzlichen Änderung niemals, nie und nimmer, funktioniert. Sobald man sagt: ‚Ich möchte mich ändern’ – ein Programm aufstellt – wird eine Gegenkraft in einem erzeugt, die von der Veränderung abhält.“
Zwischenfrage: Kommt uns das nicht auch bekannt vor – dass die Gegenkraft immer dann besonders stark ist, wenn die Veränderung beginnen soll?
Weiter mit Fritz Perls: „Änderungen finden von selbst statt. Wenn man tiefer in sich hineingeht, in das, was man ist, wenn man annimmt, was da vorhanden ist, dann ereignet sich der Wandel von selbst. Das ist das Paradoxe des Wandels.“ (zitiert nach: Werner Bock. „Arnold Beisser und das Paradox der Veränderung in der Gestalttherapie“)
„Annehmen, was ist“ – wichtig, aber missverständlich
„Annehmen, was ist“ – dieser Satz wird häufig missverstanden. Als Einladung zum Fatalismus und Entschuldigung dafür, uns dreinzuschicken in Tatenlosigkeit und Elend. Aber so ist er nicht gemeint. Denn wenn wir annehmen, was ist, schauen wir zunächst mal nur genauer hin, was sich da in uns abspielt. Wir kommen in der Gegenwart an, erleben den Drang nach Veränderung – und gleichzeitig das innere Widerstreben.
Was drängt da? Ist es wirklich ein eigenes Ziel, das wir verfolgen wollen, ein Sinn, den wir tief empfinden? Ist es eine Sehnsucht, die sich in Ärger und Unzufriedenheit über unsere aktuelle Situation ausdrückt? Oder sollen wir nur umsetzen, was andere von uns verlangen?
Die Angst, als willensschwacher Loser dazustehen
Und was widerstrebt da? Vielleicht die Befürchtung, es mal wieder nicht hinzukriegen, vor uns selbst als willensschwache Loser dazustehen? Beschützen wir einfach unser Selbstwertgefühl, indem wir einen neuen Anlauf lieber gleich vermeiden? Auf einmal sind da viele spannende Fragen, auf die es viele interessante Antworten gibt.
Etwas Entscheidendes hat sich gewandelt: unser Gefühl zu uns selbst. Indem wir neugierig in uns hinein horchen, unsere Sehnsüchte und Befürchtungen ernst nehmen, hören das zermürbende Hadern und die Selbstbeschimpfungen auf. Die Kraft, die wir vorher dafür aufgewendet haben, steht jetzt zur Verfügung.
Die Veränderung hat begonnen.
Der nächste Blog-Beitrag dieser kleinen Reihe widmet sich dem Thema „Zeit“.
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