Krise und Kriegsenkel – Teil 2: Trauma

Je länger die Krise dauert, umso intensiver können wir Angst, Trauer oder Wut erleben. Der Grund: Die aktuellen Maßnahmen können Traumata triggern.
In der Krise werden alte Traumata getriggert. Sie verstellen den Blick auf das Jetzt

Je länger die Krise dauert, umso intensiver können wir Angst, Hilflosigkeit, Trauer oder Wut erleben. Der Grund dafür: Die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung können ein Trauma triggern.

Von Sonika Husfeld-Suethoff und Sven Rohde

In einer Reihe von vier Beiträgen möchten wir die Reaktionen auf die Corona-Krise beschreiben, wie wir sie besonders in der Generation der Kriegsenkel wahrnehmen. Krisen sind uns ja wohlvertraut – aus eigenem Erleben, aber auch als transgenerationales Erbe unserer Vorfahren. Wie können wir in der aktuellen Situation mehr Bewusstheit für unsere Prägungen und Ressourcen bekommen? Welche Rolle spielt das Trauma?

Im zweiten Beitrag widmen wir uns den Emotionen, die von der Corona-Krise ausgelöst werden können: Angst, Hilflosigkeit und Trauer, aber auch Wut. Dahinter können frühkindliche Traumata wirken.

Der Fortgang der Krise provoziert bei vielen Menschen einen fast rätselhaften Wechsel der Emotionen. In der einen Woche sind sie gut gelaunt, erfreut über das gute Wetter, zufrieden mit einem gesicherten Einkommen, das aktuell nicht bedroht ist. In der Woche darauf aber werden sie von starken Ängsten überwältigt. Eben noch konnten sie frohgemut und energiegeladen für die hilfsbedürftigen Nachbarn einkaufen, um wenige Tage später hilflos und fast depressiv um eine Krisenintervention bei der Therapeutin zu bitten.

Was ist passiert? Woher kommen so unerwartet diese intensiven und bedrängenden Gefühle? Es sind Reaktionen auf die aktuelle Krise und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung. Sie rühren an zwei tief in uns verankerte Bedürfnisse: den Wunsch nach Kontakt und Nähe und das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit.

Kontakt und Nähe – das Kindheitstrauma

Wenn wir Kontakt und Nähe erleben, machen wir die Erfahrung von Verbundenheit und Zugehörigkeit. Ein Blick, ein Lächeln, eine freundliche Berührung geben uns unmittelbar Orientierung und ein Verbundenheitsgefühl. Auf einer tieferen Ebene erleben wir Sicherheit und Regulation. Aber genau das ist aktuell angesichts von Ausgangsbeschränkungen, physical distancing und Gesichtsmasken nicht möglich. Das kann ein Kindheitstrauma triggern, an alte Wunden von Verlassenheit rühren und an einen frühen Verlust von Bindung erinnern. Haben wir damals Trennungsschmerz, mangelnden Kontakt und Einsamkeit erlitten, kann das wieder an die Oberfläche treten. Bedrohliche Ängste vor Einsamkeit und Isolierung überschwemmen das System.

Autonomieverlust macht wütend

Auf der anderen Seite werden unserem Streben nach Selbstbestimmung und Freiheit große Einschränkungen auferlegt. Viele von uns können nicht zur Arbeit, in Schule und Kita, sollen das Haus nicht verlassen, dürfen nicht reisen. Die einen sind ständig von Familie umringt, die anderen sitzen allein zu Hause. Bei vielen werden Not und Hilflosigkeit ausgelöst. Dieser Verlust von Autonomie kann sehr wütend machen. Das findet seinen Ausdruck in Selbstentwertung, Aggressionen oder gar häuslicher Gewalt.

Dämonen der Vergangenheit

Unverarbeitete Verletzungen tauchen wie Dämonen aus der Vergangenheit auf und besetzen die Gegenwart. Wir erleben sehr unangenehme Gefühle – aber die gewohnten Strategien der Bewältigung stehen uns nicht zur Verfügung, weil wir nicht zum Sport können, unsere Freunde und Familien treffen, frei einkaufen und ins Kino gehen. Wir sind auf uns selbst zurückgeworfen.

In unangenehmen Gefühlen steckt eine Chance

Das ist eine Chance. Wenn wir unangenehmen Gefühlen nicht mehr ausweichen (auch nicht mit Alkohol, Essen und Streaming), können wir verstehen, dass sie praktische Aktionsprogramme zur Problemlösung sind. Wir kommen in die Lage, ihre Botschaft wahrzunehmen: „Geh einen neuen Weg!“ So können wir uns aus der Vergangenheit lösen und alte Wunden „verstoffwechseln“ – wir lernen sie auszuhalten und erreichen darüber natürliche Selbstregulation und authentische Selbstständigkeit. Achtsamkeitspraxis hilft dabei. Aber womöglich braucht es auch therapeutische Unterstützung.

Wenn wir uns in die Lage versetzen, unsere Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf unser JETZT zu erkennen, dann können wir beginnen zu differenzieren. Wir können Vergangenes anerkennen und akzeptieren, befühlen, betrauern und einen neuen Blick darauf werfen. Dies befreit unsere vom Trauma gebundene Lebenskraft und lässt uns diesen Moment neu sehen. Ja, diese Krise ist auch eine Chance, zu neuen Einsichten zu kommen und neue Wege zu gehen.  

Einladung zur Reflexion

  • Wenn Sie im Moment starke Emotionen erleben: welche Bilder der Vergangenheit steigen in Ihnen auf?
  • Mit welchen Mitteln der Bewältigung reagieren Sie gewohnheitsmäßig in solchen Situationen?
  • Sehen Sie Alternativen?

Lesen Sie auch die anderen Beiträge der Serie „Krise und Kriegsenkel“. Sie finden sie hier.

Foto: Getty

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