In der Krise fühlen wir uns wach und fokussiert, die Sinne sind aktiviert, der Geist sucht nach Lösungen – aber die Botschaft des Körpers kann uns in die Irre leiten.
Von Sonika Husfeld-Suethoff und Sven Rohde
In einer kleinen Reihe von Blogbeiträgen beschreiben wir die Reaktionen auf die Corona-Krise, wie wir sie besonders in der Generation der Kriegsenkel wahrnehmen. Krisen sind uns Kriegsenkeln ja wohlvertraut – aus eigenem Erleben, aber auch als transgenerationales Erbe unserer Vorfahren. Wie können wir in der aktuellen Situation mehr Bewusstheit für unsere Prägungen und Ressourcen bekommen? Welche Rolle spielen dabei Traumata? Diese Fragen bewegen uns sehr.
Im ersten Beitrag widmen wir uns dem Zwiespalt zwischen der Klarheit und Ruhe, die viele in der Krise erleben, und der alarmierten Reaktion unseres Nervensystems. Gerade, wenn jetzt die Kontaktbeschränkungen wieder gelockert werden: Wie stellen wir uns auf die sich ständig verändernde Situation ein?
Alle Sinne sind aktiviert
Völlig unerwartet ist alles anders. Gerade kannte ich mich noch ganz gut aus, hatte eine Orientierung in meinem Leben. Aber jetzt sind meine Sinne voll aktiviert. Wie bei einem Reh auf einer Lichtung, das vom Knacken eines Zweiges aufgeschreckt wurde. Ich erlebe große Unruhe. In meinem autonomen Nervensystem breitet sich Unsicherheit aus.
Das läuft unwillkürlich und sehr schnell. Alle Antennen sind nach außen gerichtet, um mehr Informationen zu erhalten. Der Sympathikus, der im Nervensystem für meine Aktivierung zuständige Ast, stellt mehr Energie bereit. Der Parasympathikus, zuständig für Entspannung, wird gebremst. Verdauung und Schlaf sind jetzt wirklich nicht so wichtig. Mein Geist ist hell und wach, die Muskelspannung nimmt zu. Alles stellt sich auf diesen Moment ein und ringt um Orientierung.
Die Gedanken rotieren
Mein Neocortex, im Gehirn fürs logische Denken zuständig, liefert das Narrativ für die Erregung. Es erklärt, was wir alle nur zu gut wissen: Es zieht eine Pandemie über den Planeten, und jetzt gelten Schutzmaßnahmen. Rationale Überlegungen werden durchgespielt: Sollte ich mir eine Kühltruhe für mehr Vorräte zulegen? Was ist mit meiner Arbeit? Wie kann ich mein Geld zusammenhalten? Wie kann ich mich um meine Familie kümmern? Diese Gedanken laufen in Windeseile ab, mein Geist versucht die bestmögliche Variante zu entwickeln, um mich wieder in Sicherheit zu wiegen. Ich werde kreativ – und gleichzeitig eskalieren die Befürchtungen.
Zudem fühle ich mich mehr denn je mit mir verbunden, in meinen Sinnen verkörpert. Die Psychoanalytikerin Marie Louise von Franz schrieb: „Bei extremer Gefahr wird der göttliche Kern, das Selbst, aktiviert.“ In der Bibel heißt es: „Du findest Gott da, wo du zitterst!“
Der Körper ist in Aufruhr
Ja, ich zittere. Denn wie soll ich meinem Nervensystem, das autonom agiert, vermitteln, dass jetzt alle Menschen zwei Meter von mir Abstand halten, ihr Gesicht und ihr Lächeln nicht mehr zu sehen sind? Welche Botschaft liegt in den eng gestellten Augen, die mich auf Distanz halten sollen? Und wie kann ich selbst diese Distanz, diesen Schutzraum, um mich herstellen? Das ist wirklich bedrohlich. Und so fühlt es sich auch an. Mein Körper ist in Aufruhr.
Ich bin angestrengt. Obwohl ich im Moment wenig zu tun habe, bin ich abends erschöpfter denn je. Das Nervensystem liefert den Tag über soviel Energie für meine Präsenz, dass ich abends dringend eine Pause bräuchte. „Ausruhen!“, ruft mein Parasympathikus, „und zwar dringend!“ Aber gibt es auf den einschlägigen Kanälen nicht noch wichtige Infos wahrzunehmen, die mir beim Verständnis dieser Ausnahmesituation helfen, die vielleicht Sicherheit vermitteln? Mit jeder schlechten Nachricht wird der Sympathikus wieder angefeuert. Und so langsam laufen meine Energiereserven leer …
Achtsamkeitspraxis hilft
Der Rat von Experten: ruhiges, bewusstes Atmen sowie Achtsamkeitspraxis wie Meditation oder Tagebuchschreiben. Das kann uns helfen, langsamer und ruhiger zu werden. So gelingt es uns auch, über den Hippocampus – er steuert unsere Affekte wie Wut, Angst oder Freude – Einfluss auf unser autonomes Nervensystem zu nehmen. Vorsichtig können wir über den Neocortex neue Botschaften in dieses System einfließen lassen und ein anderes Gefühl zur Krise bekommen.
Es sei denn, die Krise triggert unsere Traumata. Damit befassen wir uns im zweiten Teil dieser Reihe.
Einladung zur Reflexion
- Welche ungewöhnlichen Reaktionen erleben Sie seit Ausbruch der Krise an sich selbst?
- Erleben Sie sich eher kreativ und lösungsorientiert oder durch Befürchtungen blockiert?
- Erinnern Sie sich, wann Sie sich zuletzt in einer solchen Situation befunden haben?
- Wie empfinden Sie aus heutiger Perspektive die Entscheidungen, die Sie damals getroffen haben?
Lesen Sie auch die anderen Beiträge der Serie „Krise und Kriegsenkel“. Sie finden sie hier.
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