Die Aufarbeitung der Familiengeschichte ist ein fragiler Prozess, sagt die Psychotherapeutin Bettina Alberti im Interview. Er braucht Zeit, ist aber wichtig – und wir gehen gestärkt daraus hervor.
Frau Alberti, Ihr Buch „Seelische Trümmer ist mittlerweile ein Standardwerk der Literatur über die Nachkriegsgeneration. Welche Resonanz haben Sie erlebt?
Bettina Alberti: Sie war sehr groß, was mich ebenso überrascht wie gefreut hat. Ich habe viele Mails und Zuschriften bekommen und mehr als 100 Vorträge gehalten. Es kommen immer um die 100 Menschen, und es ist sehr bewegend, wenn Besucher nach dem Vortrag aufstehen, um von sich zu erzählen. Es geht gar nicht um fachliche Fragen, sondern um ein großes Bedürfnis sich mitzuteilen. In so einem Moment entsteht geradezu eine Art Community. Oft habe ich erlebt, dass Leute den Vortrag zum Anlass genommen haben, eine Selbsthilfegruppe zu gründen – eine große Freude für mich.
Der inhaltliche Impuls reicht aus, um Menschen in Kontakt zu bringen?
Bettina Alberti: Genau. Viele haben eine große Bereitschaft, von sich zu erzählen, sodass echte Gespräche entstehen. Sie sind dankbar für den Raum, in dem sie etwas teilen können. Besonders stark ist mir eine Veranstaltung in Osnabrück in Erinnerung, wo der Sohn einer Holocaust-Überlebenden und der Enkel eines Auschwitz-Aufsehers sich zeigten, aufeinander zugingen und sich die Hand gaben. Dann weinten diese beiden Männer. Sehr bewegend. Dass so etwas möglich ist, in einem öffentlichen Raum – danach gibt es ein großes Bedürfnis.
Erleben Sie auch die gegenteilige Reaktion, also eine Abwehr des Themas?
Bettina Alberti: Selten, und bisher nur in den östlichen Bundesländern. Bei einem Vortrag in Thüringen wurde ich von einem älteren Hausmeister mit den Worten begrüßt: „Was sollen wir denn mit diesem Scheißthema hier?“ Und in Wismar äußerte sich ein ebenfalls älterer Teilnehmer so respektlos über von Soldaten vergewaltigte Frauen, dass der Saal sofort in Aufruhr war. Mein Eindruck ist, dass sich hier die vollkommen andere Aufarbeitung der Themen Krieg und NS-Zeit in der DDR zeigt. Deswegen habe ich bei der Überarbeitung meines Buches im Jahr 2019 diese Perspektive eigens ergänzt. Das war mir sehr wichtig.
Die Aufarbeitung der Familiengeschichte braucht Behutsamkeit
Das Generationen-Phänomen der Kriegsenkel kennen Sie nun seit 35 Jahren. Wie stark ist es in Ihrer Arbeit als Psychotherapeutin präsent?
Bettina Alberti: Sehr stark. Nicht mehr bei den jungen Menschen, aber bei den Kindern der Kriegsteilnehmer und denen der Kriegskinder durchaus.
Kommen die Menschen wegen Ihres Buches „Seelische Trümmer“ zu Ihnen, weil sie bei Ihnen um die Expertise wissen, oder taucht das Thema Kriegserbe in der gemeinsamen Arbeit auf?
Bettina Alberti: Beides. Nachdem das Buch erschien, waren es viele. Die meisten kommen wegen Depressionen, Angststörungen oder psychosomatischen Erkrankungen, und dann können wir schauen, ob darunter eine transgenerationale Weitergabe liegt.
Im Kontakt mit Kriegsenkeln erlebe ich immer wieder eine Scheu, sich eingehend mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Es gibt oft ein eher oberflächliches Wissen über das, was die Vorfahren während des Krieges und der Nazizeit erlebt und getan haben – aber eine deutlich spürbare Angst, tiefer zu forschen. Etwa in anderen Abteilungen des Bundesarchivs nachzuforschen, ob es Unterlagen zu Kriegs- oder Naziverbrechen gibt. Das unterbleibt oft. Worauf führen Sie das zurück?
Bettina Alberti: Das ist ein sehr fragiler Prozess. Er braucht Behutsamkeit und Zeit. Es gibt hier zwei Ebenen: die des persönlichen Erlebens, weil es um die eigene Familie geht, um Vater oder Großvater, aber womöglich auch Mutter oder Großmutter. Und es gibt die kollektive, die gesellschaftliche Ebene. Beide greifen wie bei einem Reißverschluss ineinander. Wenn Sie sich an die Ausstellung zu den Kriegsverbrechen der Wehrmacht erinnern, dann sind Sie auf der gesellschaftlichen Ebene – es gab einen Aufschrei der Empörung.
Wir können die Loyalität mit der Familie nicht abstellen
Warum ist das auch fast 80 Jahre danach so bedrohlich?
Bettina Alberti: Wenn Sie eine Ahnung bekommen von Verbrechen, die Vater oder Großvater begangen haben, dann entsteht eine große Angst vor der Scham. Wir müssten uns für sie schämen, und Scham ist etwas, was wir nur schwer aushalten können und deswegen unbedingt zu vermeiden suchen. Außerdem sind wir innerhalb einer Familie immer auch loyal. Diese Bindung können wir nicht abstellen. Man schämt sich für den Vorfahren, und gleichzeitig ist es wie ein Teil von einem selbst. Diese Barriere zu überwinden, ist sehr schwer. Die eigene Familie wird dabei beschädigt. Man verstößt gegen das Gebot der Loyalität, wenn man das Gefühl zulässt, das diese unfassbar massive Form von Gewalt auslöst. Jeder Krieg ist schlimm, aber der 2. Weltkrieg hatte eine Sonderstellung – es war ein Exzess.
Sie betonen, dass es nicht nur um die Nachwirkungen des Krieges, sondern auch der Nazi-Ideologie geht.
Bettina Alberti: Beides wirkt transgenerational! Es gibt noch vieles in unserer Gesellschaft, das daran gebunden ist: Funktionieren als Dogma, das Entseelte, das wir erleben, gerade aktuell wieder verstärkt. Wir sollten sehr wachsam sein, wo die Verbindung von Krieg und Nationalsozialismus immer noch fortwirkt. Ich sehe eine gesellschaftliche Aufgabe darin, die Seelenqualitäten, die wir als Potenzial in uns tragen – Liebesfähigkeit, Empathie, Toleranz –, zu entwickeln. Diese Hoffnung trägt mich.
Zu verdrängen ist legitim, hat aber seinen Preis
Wie kann das gelingen?
Bettina Alberti: Wir kommen um einen klaren Blick auf das, was unsere Vorfahren im Krieg und im Nazi-Regime getan haben, nicht herum. Aber es braucht Zeit, sich damit zu konfrontieren, zum einen mit der Scham, zum anderen mit dem Bewusstsein für diese Gewalt – und dass es innerhalb der eigenen Familie Mittäter gegeben haben kann. Da geht man nicht einfach los und liest in Archiven. Das habe ich nur bei einem Klienten erlebt, dessen Wut der Motor war, alles ganz genau zu recherchieren. Aber das ist selten. Wir haben den Schutzmechanismus des Verdrängens und Vermeidens. Der ist legitim. Die Seele ist nicht unendlich belastbar. Deswegen brauchen wir auch Schutz, wenn wir uns diesen Themen zuwenden, sonst kann es sekundär traumatisieren.
Das berührt mich gerade sehr persönlich. Mir ist bei der Wiederbeschäftigung mit den Unterlagen meiner Familie klar geworden, dass mein Vater und mein Onkel an einem der größten Kriegsverbrechen des 2. Weltkriegs beteiligt waren: der Belagerung von Leningrad, bei der mehr als eine Million Russen verhungert sind. Die Vorstellung ist kaum auszuhalten.
Bettina Alberti: Wenn man anfängt, sich das vorzustellen, ist das wirklich nicht aushaltbar. Das ist ja auch gut so – dass es eigentlich nicht aushaltbar ist! Und wenn Ihnen die Tränen kommen, dann zeigt es, dass Sie mitempfinden können. Das fragen wir uns doch immer wieder: Wie konnten Menschen diese Verbrechen begehen, wie konnten sie sich so abtrennen von ihrer Fähigkeit zu fühlen?
Die Trauer ist der tiefste Punkt des Weges
Die Frage, die sich immer wieder stellt: Wie werde ich die ererbte Schuld los? Luise Reddemann betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Trauerarbeit. Wie gehen Sie vor?
Bettina Alberti: In der Psychotherapie ist die Trauer der tiefste Punkt. Wenn wir dahin kommen, dass etwas wirklich beweint werden kann, dann ist eine Öffnung gelungen. Vieles, was vorher geschieht, ist noch Teil der Abwehr, damit wir diesen Schmerz eben nicht erleben müssen. Es ist ein Weg, den Therapeut:in und Klient:in miteinander gehen.
Das Schuldgefühl, das viele von uns kennen, ist Teil der Abwehr?
Bettina Alberti: Es klingt paradox, aber das Schuldgefühl hat noch eine Schutzfunktion. Solange ich noch Schuld empfinde – die ich als Nachgeborene ja nicht habe! –, bin ich in einer anderen Energie, in der Empörung, gebunden. Wenn ich beginne, mich innerlich wirklich einzulassen auf das, was geschehen ist, erst dann kann die Trauer kommen. Der Weg dorthin ist lang, aber sehr wichtig. Er braucht Zeit, Empathie, auch viel Mut und dann die Fähigkeit, den Schmerz auszuhalten. Aber wie ich schon sagte: Die Seele ist nicht unendlich belastbar. Es kann einen sonst mitreißen, und das empfindet man auch unbewusst. Da braucht es gute Haltepunkte im Leben, Menschen, die einen unterstützen.
Wenn wir von transgenerationaler Weitergabe sprechen, müssen wir uns die Frage stellen: Wo ist diese Täterenergie eigentlich in mir gelandet? Da wird es sehr unangenehm.
Bettina Alberti: Trotzdem ist es gut, das wahrzunehmen. Weil auch das eine Öffnung bedeutet. Weil ich dann das Familienmitglied als einen wirklich anderen erkenne. Solange ich in der kollektiven Schuld bin, bin ich verbunden. Wenn ich mich hieraus löse, stelle ich mich gleichsam gegenüber und kann schauen, was mein Vorfahr wohl gemacht, was er gedacht hat.
Wer sich der Familie wegen verleugnet, opfert ein Stück seines Selbst
Da kommt dann auch die Angst, von der Familie verstoßen zu werden?
Bettina Alberti: Das kann tatsächlich passieren. Die anderen Familienmitglieder werden mit etwas konfrontiert, was sie mit einem Tabu belegt haben, weil sie die Wahrheit nicht meinten aushalten zu können. Hier entsteht eine ähnliche Härte wie bei der Tat selbst, und das Unrecht kann sich wiederholen.
Wäre es dann eher sinnvoll, den Menschen von dieser Öffnung abzuraten?
Bettina Alberti: Dadurch würde innerlich eine enorme Spannung entstehen. Weil man sich untreu wird, sich verleugnet. Man opfert der Familie ein Stück seines Selbst. Dieser Preis wäre sehr hoch. Das würde ich niemandem raten.
Sich dem Prozess zu stellen, hilft uns und unseren Kindern
Sie plädieren also dafür, dass wir uns diesen Prüfungen aussetzen?
Bettina Alberti: Ja, denn sie sind wichtig. Die Angst davor ist absolut verständlich. Ich habe sie zum Beispiel in Yad Vashem sehr intensiv empfunden. Aber wenn man sich der Angst stellt und den Mut aufbringt, geht man gestärkt daraus hervor. Auch wenn es schwer ist, ist es trotzdem gut! Es macht Sinn!
Weil es hilft?
Bettina Alberti: Weil es Ihnen hilft, aber auch anderen. Zum Beispiel Ihren Kindern. Das ist eine Transformation: Man wirkt in das Leben hinein, und das ist bedeutend! Jeder kleine Schritt bewirkt etwas, davon bin ich überzeugt.
Haben Sie Interesse an der Aufarbeitung Ihrer Familiengeschichte? In den Einsteigerseminaren für Kriegsenkel und in der Online-Jahresgruppe für Kriegsenkel kümmern wir uns darum.