Wie lange sollen wir die Verletzungen unserer Vergangenheit aufarbeiten, wann endlich den Blick nach vorne richten?
Vergangene Woche saß ich mit einem guten Freund zusammen, und wir plauderten über das, was uns gerade beschäftigt. Ich erzählte vom neuen Buch von Julia Cameron „Es ist nie zu spät neu anzufangen“. Darin regt sie an, die eigenen Memoiren zu schreiben: weil wir auf diese Weise alte Verletzungen heilen und verloren geglaubte Potenziale und Talente aktivieren können.
Essencing: der Vision folgen
Mein Freund, einigermaßen angewidert: „Ich habe echt keine Lust mehr, mich mit alten Geschichten zu befassen. Irgendwann ist es mal genug. Ich will den Blick nach vorne richten und meine Zukunft gestalten.“ Das erinnerte mich spontan an ein Gespräch mit Albert Pietzko in meiner Ausbildung zum Essenzcoach. „Probleme“, sagt er, „haben eine ungeheure Anziehungskraft. Wir befassen uns oft viel zu lange damit, anstatt unserer Vision zu folgen.“
Ein Konflikt. Denn wenn uns hinterrücks eine alte Kindheits- oder Jugendgeschichte einholt, vielleicht sogar ein Trauma aktiviert wird (so ist es mir kürzlich passiert), dann klopft die Vergangenheit mit Wucht an die Tür. Sie will wahr und wichtig genommen werden. Allerdings nicht als Selbstzweck. Denn in diesen Verletzungen sind Sehnsüchte geborgen, zum Beispiel nach Gemeinschaft, Geborgenheit oder Selbstausdruck.
Der einfache Grund für diesen Zusammenhang: Wenn unser Wunsch damals nicht so wichtig gewesen wäre, hätte uns die Verletzung nicht so tief getroffen und längst ihre Bedeutung verloren. Vom einen – der bedrängenden Erinnerung – zum anderen – der verheißungsvollen Vision – führt deswegen ein direkter Weg. Und so lehrt es auch Albert Pietzko: die Verletzung als den Startpunkt für eine Expedition zum eigenen Selbst anzunehmen.
Julia Cameron führt auf den Weg des Künstlers
In ihrem Klassiker „Der Weg des Künstlers“ – der mich zu meinem Coaching-Schwerpunkt „Selbstausdruck und Künstlerseele“ inspiriert hat – zeichnete Julia Cameron ein schönes Bild für den Umgang mit unserer Vergangenheit. Unser Lebensweg sei wie der Weg auf einen Berg, den wir aufsteigend immer wieder umrunden. Bei jeder Umrundung schauen wir auf dieselbe Umgebung, allerdings aus größerer Höhe. Jedes Mal verändert sich die Perspektive, können wir größere Zusammenhänge überblicken. Ein interessantes Panorama bietet sich unseren Blicken, wir können gerne einen Augenblick verweilen.
Wichtig nur: nicht stehenbleiben – weitergehen! Denn da wartet die Vision.
Foto: Ross Helen, Thinkstock