Der Familientherapeut Professor Wolf Ritscher über die große Bedeutung von KZ-Gedenkstätten und Erinnerungskultur – und warum es keinen Sinn macht, wenn wir stellvertretend für die Opfer leiden.
Herr Ritscher, Sie haben ein Buch über die Bildungsarbeit an den Orten nationalsozialistischen Terrors geschrieben, in dem Sie sich intensiv mit der Erziehung nach Auschwitz auseinandersetzen. Wie erinnern Sie Ihren ersten Besuch dort?
Wolf Ritscher: Ein erstes Gefühl, das in mir aufstieg, war damals: ‚Wie wenig weiß ich eigentlich!‘ Und das andere war immer wieder: Ich kann es kaum ertragen. Ich erinnere mich an mein Erleben in der Baracke 5, in dem die Utensilien der Opfer ausgestellt sind, die die Nazis ihnen bei ihrer Ankunft geraubt hatten. Also etwa Koffer, Schuhe, Kleidung, Kinderkleidung. Als ich vor diesen Kinderkleidern stand, habe ich es kaum ausgehalten.
Hat sich das mit den Jahren geändert?
Wolf Ritscher: Nein, es war jedes Mal so. Bei meinen letzten Besuchen bin ich nicht mehr in diese Baracke gegangen. Ich bin mir auch gar nicht mehr sicher, ob es gut ist, diese Dinge auszustellen.
Gab es auch positive Erlebnisse?
Wolf Ritscher: Unbedingt! Ich hatte das Glück, dass der Historiker Andrzej Strzelecki mit dem ich auch heute noch befreundet bin, mich durch die beiden Lager führte. Er nahm sich sehr viel Zeit und beschrieb mir ausführlich die Geschichte und Organisation, verbunden mit der Wiedergabe der Erinnerungen von Zeitzeug:innen. Ich erlebte auch die Faszination von Informationen, die mich in den Bann zogen, etwa im Archiv, wo ich Dokumente einsehen konnte. Diese Einblicke in die Zeitgeschichte waren hochinteressant.
„Die Erfahrung von Auschwitz hat sehr intensiv nachgewirkt“
Wie haben die Erlebnisse in Auschwitz oder anderen KZ-Gedenkstätten in Ihnen selbst nachgewirkt?
Wolf Ritscher: Sehr intensiv. Der nächste Schritt war, mich in eine Gruppe einzubringen, die Kinder und Enkel sowohl der Opfer als auch der Täter miteinander in Kontakt brachte. Das waren sehr ergreifende und bewegende Begegnungen, die mich intensiv zum Nachdenken über mich selbst angeregt haben. Etwa über die Frage, die viele politisch bewusste Menschen umtreibt: Was hätte ich in der Zeit des Nationalsozialismus als Jugendlicher oder junger Erwachsener gemacht?
Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Wolf Ritscher: Ich erzähle Ihnen ein Erlebnis aus der Gruppe. Wir waren in den USA, weil die Gruppenleiterin und einige Teilnehmende von dort kamen, und machten ein Rollenspiel. Eigentlich eine furchtbare Konstellation: SS-Bewacher und Häftlinge im Konzentrationslager.
Oh.
Wolf Ritscher: Man kann sich durchaus fragen, ob das ein angemessenes Setting war. Aber für mich war es eine unglaublich intensive und herausfordernde Erfahrung. Ich hatte die Rolle eines SS-Mannes. Auf eigenen Wunsch. Gerade unter der Fragestellung, was dann mit mir passiert. Und es war für mich erschreckend, wie ich in dieser Rolle ein Gefühl von Allmacht und Gewaltbereitschaft den Häftlingen gegenüber entwickelte. Ich erlag ein Stück weit der Faszination der Gewalt – und als ich aus der Rolle ausstieg, packte mich ein großes Entsetzen. Gerade weil ich aus einer Familie komme, in der es Opfer der Nazis und ihres Terrors gegeben hat.
„Wir sollten die eigenen destruktiven Anteile erkennen“
Welche Schlüsse haben Sie daraus gezogen?
Wolf Ritscher: Ich beschloss damit aufzuhören, den Menschen, die während des Nationalsozialismus erwachsen waren, ständig Vorwürfe zu machen. Mir wurde Folgendes deutlich: Der Kontext, in dem ich handle, ist außerordentlich wichtig. Er kann so viele mir unbekannte Seiten zum Vorschein und ins Verhalten bringen, sodass ich in Zukunft vorsichtig sein will mit meinen Bewertungen. Damit Sie mich nicht missverstehen: Das ist überhaupt keine Entschuldigung für die Täter, die gefoltert und gemordet haben! Aber es ist wichtig, im Sinne Freuds die eigenen destruktiven Anteile zu erkennen und einen Umgang damit zu finden.
Was hatte eigentlich zu Ihrer Beschäftigung mit der Bildungsarbeit in Gedenkstätten geführt?
Wolf Ritscher: Das hat drei Stränge. Der erste ist der politische, der in meine Zeit als Student zurückreicht. In der APO, der sogenannte außerparlamentarischen Opposition, spielte die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, eine große Rolle.
Zudem sind einige Ihrer Vorfahren im KZ ermordet worden.
Wolf Ritscher: Das führt mich zum zweiten Strang. Meine Tante hatte begonnen, das Gedenken an Käthe Loewenthal, meine Großtante väterlicherseits, wiederzubeleben. Mit einer Ausstellung der Werke dieser Malerin, die 1942 wahrscheinlich im Ghetto von Izbica ermordet wurde. Damit kam auch in unserer Familie ein Austausch über Käthe Loewenthal zustande.
„In vielen Familien von Opfern wurde nicht gesprochen“
Den hatte es vorher nicht gegeben?
Wolf Ritscher: Nein, was übrigens durchaus typisch war für Familien von Opfern. Meine Tante aber war mit dem Thema vertraut. Sie hatte als Psychiaterin in München immer wieder die Aufgabe, Gutachten für die Entschädigung von Holocaust-Überlebenden zu erstellen, und sie war auch als Therapeutin für sie tätig.
Zudem waren Sie aber auch in Lehre und Forschung mit der Shoah befasst.
Wolf Ritscher: Ja, das ist der dritte Strang. Als ich an die Hochschule für Sozialwesen in Esslingen kam, arbeitete dort Professor Kurt Senne, der schon in den 80er Jahren das Projekt „Erziehung nach Auschwitz“ ins Leben gerufen hatte. Sein Konzept war genial: Studierende, die sich für das Projekt melden konnten, setzten sich mit dem Nationalsozialismus, der Shoah und dem Nazi-Terror auseinander und entwickelten ein Bildungsseminar für bildungsbenachteiligte Jugendliche, das sie gemeinsam mit den Jugendlichen vorbereiteten und in der Gedenkstätte Auschwitz begleiteten.
Welche Bedeutung hatte diese Arbeit für Sie?
Wolf Ritscher: Ich fand und finde sie sehr bedeutend. Wir haben die Verpflichtung und die Aufgabe, den nachfolgenden Generationen Informationen zur Verfügung zu stellen und ein Angebot, sich damit zu beschäftigen, damit die Demokratie in Deutschland langfristig eine Chance hat.
„Wir müssen der Demokratie in Deutschland eine Chance sichern“
Das ist ein wuchtiger Anspruch. Wie verbindet er sich mit den grauenhaften Eindrücken, die man in Auschwitz und anderen Gedenkstätten bekommt?
Wolf Ritscher: Der erste Schritt war, eine demokratische Struktur in unserem Projekt mit den Studierenden und Schüler:innen zu etablieren. Zudem haben die Jugendlichen in Auschwitz immer auch Zeitzeugen getroffen. Eigentlich jeder dieser alten Menschen hat am Ende einen Appell an sie gerichtet: ‚Passt auf! Engagiert euch! Und tut, was ihr könnt, damit so etwas Entsetzliches nicht wieder passiert!‘ Diese Orientierung: Was könnt ihr in eurem Alltag, in eurer Umgebung bewegen, die war damit präsent.
Für mich als Familientherapeut war außerdem wichtig, dass sowohl die Studierenden als auch die Jugendlichen etwas aus ihrer Familiengeschichte erzählen konnten. Ich habe einfach gefragt: Wie war das denn bei euch? Wird darüber geredet, was während der Zeit des Nationalsozialismus in eurer Familie passiert ist? Über solche Gespräche ist viel politisches Bewusstsein entstanden.
Ich kenne Menschen, die Besuche in KZ-Gedenkstätten eher abschreckend finden.
Wolf Ritscher: Das kann ich verstehen. Ich habe große Vorbehalte gegen Aktionen wie diese: Wir gehen jetzt in eine Gedenkstätte, dort machen wir eine Führung, dann erzählt uns ein Guide, was da alles Schreckliches passiert ist, und dann gehen wir wieder nach Hause. Ich halte überhaupt nichts von dieser Betroffenheits-Pädagogik.
„Betroffenheits-Pädagogik schadet mehr, als dass sie hilft“
Betroffenheits-Pädagogik – was stelle ich mir darunter vor?
Wolf Ritscher: Wenn man den Jugendlichen ständig erzählt, wie schlimm die Nazis waren, wie böse die Deutschen, was für grauenhafte Dinge passiert sind – ‚und jetzt habt doch Mitleid!‘ Wir haben stattdessen angeleitet, dass die Jugendlichen die Informationen selbst zusammentragen, mit unserer Hilfe natürlich. Dass sie die Orte in Auschwitz fotografierten, die sie selbst am bedeutendsten finden. Interviews machen mit Besuchern oder Mitarbeitenden. Selbst in die Aktion kommen und dadurch diese ganzen Gefühle von Spannung, Wut, Trauer, Deprimiertheit durch selbstwirksames Handeln rahmen und so zu integrieren.
Was mir auch wichtig ist: In Auschwitz darf man weinen und lachen. Wir haben immer darauf geachtet, dass die Gruppen auch Positives erlebten, dass es Freizeiten gab, bei denen es ein Picknick gab, bei denen Fußball gespielt oder eine Burg angeschaut wurde. Auch diese andere Seite des Lebens gehörte mit in dieses Projekt – und das scheint mir ein wichtiger Aspekt für den Umgang mit diesem Thema überhaupt. Die Botschaft ist: „Das war damals – aber ihr lebt heute!“
Wie sollten Ihrer Erfahrung nach Ausstellungen gestaltet sein?
Wolf Ritscher: Zum Beispiel wie in der Gedenkstätte Ravensbrück. Es ist entscheidend für eine nachhaltige Wirkung, die Geschichte des nationalsozialistischen Terrors ein Stück weit zu individualisieren. Und zwar sowohl auf der Seite der Opfer wie auf der der Täter. So sind wir als Menschen gestrickt: Wir lernen in personalen Beziehungen. Wenn wir von den Schicksalen anderer erfahren, lernen wir auch etwas für und über uns. Es ist mitunter leichter, über die Geschichte anderer zu uns selbst zu kommen. Und deswegen finde ich Darstellungen in Gedenkstätten, in denen wir die Geschichte sowohl von Opfern als auch Tätern kennenlernen, sehr gut – und das dann eingerahmt in allgemeine zeitgeschichtliche Informationen. Für unser Verständnis ist es entscheidend wichtig, den historischen Kontext zu kennen.
„Die Nazi-Geschichte der Familie abzuwehren, ist ein verständlicher Impuls“
Was ich im Kontakt mit Kriegsenkeln wahrnehme, ist eine Scheu sich damit zu befassen, was die Vorfahren während der Nazi-Zeit und des Krieges getan haben. Wie erleben Sie das?
Wolf Ritscher: Ich finde es verständlich, dass man sich nicht mit den Taten oder Untaten seiner Vorfahren befassen möchte. Das sollte man nicht verurteilen. Es gibt außerdem eine besondere Form der Abwehr, die in eine Mythisierung der Großeltern mündet. Da heißt es, ‚Opa war ja gar kein Nazi. Es gab viele böse Menschen in dieser Zeit, aber unserer gehörte nicht dazu.‘ Menschlich, allzu menschlich. Ich bin dafür, solche Formen der Distanzierung erst einmal anzunehmen. Weil es Versuche sind, die eigene Identität und Position im Leben zu sichern. Wir alle sind Teil unserer Familien, unsere Großeltern sind Teil von uns, und wenn wir unsere Großeltern infrage stellen, ist das auch eine Infragestellung unserer selbst.
Also sollten wir Respekt haben vor den Abwehrmechanismus, wenn jemand sagt: ‚Ich will das nicht wissen!‘‘
Wolf Ritscher: Unbedingt. Diese Abwehrformen sichern ein psychisches Überleben. Alles kommt zu seiner Zeit. Es hat einen inneren Sinn, wenn man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in eine Gedenkstätte aufmacht oder die Familiengeschichte erforscht – und nicht vorher. Natürlich kann diese Forschung dann etwas in uns zur Ruhe bringen und es unseren Nachkommen leichter machen. Als Vater von heute drei erwachsenen Kindern kann ich vorbehaltlos der These zustimmen, dass jede Generation die Chance hat, an der transgenerationalen Lösung schwieriger Familienthemen mitzuwirken. Aber wir sollen es gut mit uns meinen. Es macht keinen Sinn, wenn wir stellvertretend für die Opfer leiden. Das hilft den Opfern auch nicht mehr.
Dennoch sagen Sie, dass eine Beschäftigung mit diesem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte für die Demokratie in unserem Land wichtig ist.
Wolf Ritscher: Ich würde aber nie versuchen, jemanden zu diesem Thema zu überreden. Das muss von den Menschen selbst kommen. Wir haben nicht das Recht, so in das psychische Erleben eines anderen einzugreifen, indem wir ihm die Beschäftigung mit dem Grauen jener Zeit aufnötigen. Er oder sie ist deswegen kein guter oder schlechter Mensch. Der moralische Zeigefinger führt ja genau in die Paradoxie, dass die Menschen sich dem Thema erst recht verschließen. Das habe ich von Schülerinnen und Schülern oft gehört. Es gibt eine Art, in der man die Menschen mit der eigenen und der Geschichte ihres Volkes konfrontiert, die eher zur Abschreckung führt. Das ist doch kontraproduktiv! Im Angesicht von Auschwitz – als Metapher gemeint – sind Zwang und Gewalt und Manipulation noch einmal schrecklicher als ohnehin.
„Zwang und Gewalt hasse und verabscheue ich zutiefst“
Ist das Ihre Erkenntnis als Lehrer und Therapeut?
Wolf Ritscher: Einerseits. Es hat aber auch damit zu tun, dass ich Zwang und Gewalt zutiefst hasse und verabscheue. Das größte Gut für mich sind meine Selbstständigkeit und meine Autonomie. Wenn die angegriffen werden, werde ich fuchsteufelswild. Schon deshalb werde ich nie versuchen, das bei anderen zu versuchen.
Wolf Ritscher, geboren 1948, ist Psychologe, Sachbuchautor, Familien-, Paar-, Gruppentherapeut und Supervisor. Er lehrte als Professor für Psychologie an der Hochschule für Sozialwesen in Esslingen. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit und Forschung: die psychosozialen Folgen des Nationalsozialismus und Bildungsarbeit an Gedenkstätten des nationalsozialistischen Terrors.