Wie das Trauma in Familie und Beziehung wirkt

Wie das Trauma in Familie und Beziehung wirkt

‚Trauma ist vielleicht die am häufigsten vermiedene, ignorierte, missverstandene und unbehandelte Ursache für menschliches Leid – und es beeinträchtigt massiv unsere Beziehungen.“ Über Wege zur Heilung.

Woher kommt nur diese Wut, die aus scheinbar nichtigem Anlass aus uns herausbricht, und die Scham danach? Die Überempfindlichkeit, die uns bei leisester Kritik zusammensinken lässt? Die Einsamkeit, die uns inmitten fröhlicher Menschen ereilt? Das Misstrauen, mit dem wir freundliche Anerkennung in Zweifel ziehen oder gar ruppig abwehren? Die Unruhe, die vor allem in Momenten nachlassender Spannung eskaliert? Und all das gerade im Kontakt mit anderen, mit Partner oder Partnerin, Kindern, Freunden, mit Menschen, denen wir uns doch eigentlich verbunden fühlen?

Es mag auch andere Erklärungen geben, aber ganz oft liegt darunter ein Trauma.

Wenn wir uns diesem Thema nähern, uns über die Ursachen von Traumata, ihre Auswirkungen und die Wege der Heilung austauschen, dann ist es gut, wenn wir das mit Vorsicht und Mitgefühl tun. So wie auch bei der Behandlung des Traumas selbst. Wenn wir darauf schauen, welche Spuren es in uns hinterlassen hat, wie es unseren Selbstwert, unsere Gesundheit, unsere Beziehungsfähigkeit beeinflusst und wie es sich in unsere Familien und unseren Beziehungen widerspiegelt, dann ist es gut, wenn wir uns um eine fürsorgliche Haltung und einen liebevollen Blick bemühen. Denn Erfahrungen von Abwertung und Demütigung, vielleicht sogar Gewalt, gab es doch mehr als genug, oder?

 

Die Beschäftigung mit dem Trauma: schmerzhaft, aber lohnend

Eine Passage aus dem Buch „Wie Traumata in die nächste Generation wirken“ klingt in mir nach. Gabriele Frick-Baer und Udo Baer schreiben: „Wir betraten mit diesem Buch Neuland … Das war aufregend und manchmal … so belastend, dass wir uns gelegentlich fragten, ob wir dieses Projekt nicht fallen lassen sollten.“ Wie wir angesichts des Buches, das wir in Händen halten, natürlich schon wissen: Sie haben weitergeschrieben.

„Wir konnten nicht aufhören“, schreiben sie. Weil die beiden Therapeut:innen erlebten, wie ihre Untersuchungen und Erkenntnisse nicht nur ihren Klient:innen halfen, sondern auch ihnen persönlich. Sie resümieren: „Wir sind froh darüber, dass wir dieses Buch vollendet haben.“ Als Leser war ich es auch. Denn das Beispiel von Gabriele Frick-Baer und Udo Baer zeigt, dass die Beschäftigung mit Traumata zwar sehr belastend sein kann, aber so überaus lohnend. Für uns selbst. Und damit schließlich auch für unsere Beziehungen.

Der Weg dorthin kann mühsam und schmerzhaft sein. So geht es wohl allen, die sich mit Traumata befassen, auf theoretischer Ebene oder im Erleben der täglichen Arbeit. Die Geschichten, die wir in Seminaren oder im Coaching hören, in Therapien berichten, die in Romanen oder im autobiografischen Schreiben verarbeitet werden, sind nicht selten so dramatisch und erschütternd, dass wir fragen: Wie haben wir das durchgestanden, ja wie haben wir das überlebt? Ist es nicht eigentlich ein Wunder? Und natürlich verbindet sich damit der Impuls, all das endlich beiseite zu schieben, einen Schlussstrich zu ziehen und fortan frohgemut in eine goldene Zukunft zu schauen. Bis uns das Trauma wieder einholt, die Gegenwart sich dunkel einfärbt und wir uns wie in einer Dauerschleife wiederfinden.

 

Das Trauma ist eine Prägung, die auf Geist, Gehirn und Körper wirkt

 

Das Trauma in Familie und Beziehung 

Das Trauma hinterlässt seine Spuren in Seele und Körper.

Die es ja tatsächlich ist. Thomas Hübl, spiritueller Lehrer und Experte für kollektive Traumata, nennt das, was wir erleben, „Nachzeit“: „Es ist, als wären wir auf der Autobahn unterwegs und kämen alle fünf Kilometer an einem Schild vorbei, auf dem ‚Gestern‘ steht.“ In dieser Nachzeit projizierten wir die Vergangenheit in die Zukunft, sodass unser Morgen nicht von Entwicklung und Erneuerung geprägt sei, sondern von dem Bemühen, das Geschehene zu verarbeiten und zu integrieren.

Der niederländische Psychiater und Traumatologe Bessel van der Kolk nennt den Grund dafür: „Wir haben gelernt, dass ein Trauma nicht nur ein Ereignis aus ferner Vergangenheit ist, sondern dass durch dieses Ereignis auch eine Prägung entsteht, die auf Geist, Gehirn und Körper wirkt und bleibende Folgen für die gegenwärtige Sicherung des Überlebens des menschlichen Organismus hat.“ Und: „Trauma ist eigentlich nicht die Geschichte von etwas, das sich vor langer Zeit abgespielt hat. Trauma ist der Rest, der jetzt noch in dir lebendig ist.“ Der seine Macht vor allem daraus zieht, dass er im Unbewussten wirkt.

 

Was ist das überhaupt – ein Trauma?

Was ist das überhaupt – ein Trauma? Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Wunde“. Traumatische Erfahrungen überrennen unsere Möglichkeiten von Verarbeitung und Bewältigung. Wir verlieren das Gefühl der Kontrolle, unsere Mechanismen zur Selbstregulation funktionieren nicht mehr. Das Trauma hinterlässt einen Bruch in unserer Schutzhülle und ein Gefühl von extremer Hilflosigkeit und Angst. Wir erleben einen Verlust. Wir verlieren das Gefühl für unsere Integrität, unsere innere Elastizität und Beweglichkeit, unser Selbstvertrauen, das Gefühl von Grenzen und Sicherheit, unsere Orientierung in Raum und Zeit, die Verbindung zu uns selbst und anderen. Unsere Wahrnehmung kann verzerrt sein und stimmt nicht mehr mit der Wahrnehmung anderer überein. In der Folge werden wir reizbar und misstrauisch, können unter Albträumen und Schlafstörungen leiden und entwickeln ein stark erhöhtes Risiko für Suchterkrankungen und Depressionen.

Dabei unterscheiden wir drei Arten von Traumata:

  • das Schocktrauma – ein plötzliches, überwältigendes Erlebnis als Folge von Unfällen, Operationen, Naturkatastrophen, Krieg und Erfahrungen oder Beobachtungen von Gewalt;
  • das Entwicklungstrauma – die Verlassenheit und Vernachlässigung während der Kindheit;
  • das transgenerationale Trauma – erlitten von unseren Vorfahren, uns übertragen durch epigenetische oder komplexe psychologische Mechanismen.

 

Nazi-Erziehung war eine Anleitung zur Kindesmisshandlung

Wie alle wissen, die sich mit Kriegskindern und Kriegsenkeln befasst haben, sind es nicht selten alle drei Arten von Trauma, die das Leben vieler Menschen geprägt haben. Der Umgang mit Säuglingen und kleinen Kindern, wie sie der Nationalsozialismus forderte und in Form des Buches „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer in Millionen Haushalte trug, war geradezu eine Anleitung zur Traumatisierung, ein Handbuch zur Kindesmisshandlung.

Mit Langzeitwirkung. „Viele Traumatisierte suchen sich geradezu zwanghaft immer wieder Umstände, die an das ursprüngliche Trauma erinnern“, hat Bessel van der Kolk festgestellt. Aber bei diesen unbeabsichtigten Neuinszenierungen werde kaum je der Zusammenhang mit früheren Erlebnissen erkannt. Diese Erfahrungen haben ihre Spuren freilich nicht nur in unseren Erinnerungen und Einstellungen hinterlassen, sondern auch in den vom Bewusstsein nicht beeinflussbaren Prägungen unseres Gehirns. Und: im Körper.

 

Bei einem Trauma steht der Körper unter Spannung, ist aber kaum belebt

Haben wir häufig große Angst und heftigen emotionalen Schmerz erlitten, manifestiert sich dies in einer chronischen Muskelspannung, einer reduzierten Beweglichkeit der Muskulatur, vom Psychoanalytiker Wilhelm Reich „Muskelpanzer“ genannt. Diese Erstarrung, die dem Schutz von Stress und Trauma dienen soll, reduziert zugleich unsere Fähigkeit zu fühlen. „Gefühle, für die es keinen emotional-motorischen Ausdruck gibt, weil wir uns durch Gedanken oder unbewusste Ängste kontrollieren (…) werden als Muskelanspannung im Körper gehalten“, schreibt die Osnabrücker Psychotherapeutin Vita Heinrich-Clauer. Ein fester oder geschlossener Mund, ein verspannter Kiefer kann jede Kommunikation von Gefühlen blockieren. „Augenring-, Schädelbasis- und Nackenmuskulatur, Schultergürtel halten Angst, Schrecken und Terror. Handgelenke wirken oft unbelebt, unfähig zu einer abwehrenden Geste. Bei Patienten, die geschlagen wurden, (zeigen sich) hart verspannte Muskeln im Rücken und Gesäß sowie eine erhöhte Wachsamkeit im Rücken, verbunden mit der Unfähigkeit sich anzulehnen, zu überlassen.“ Der Körper ist in einer Art Überlebensphysiologie gefangen: Der Körper steht unter hoher Spannung, ist aber kaum belebt.

Das Trauma in Familie und Beziehung 

Destruktive Muster im Familiensystem haben ihre Wurzeln oft in transgenerationalen Traumata.

 

Das Trauma etabliert destruktive Muster im Familiensystem

Das ist freilich nur der Beginn des Dramas. Vor allem die Abwehr von Trauerreaktionen, wie sie in Zeiten von Krieg und großer Not verbreitet ist, kann dazu führen, dass Familienmitgliedern Verluste nicht bewusst, Gefühle überhaupt blockiert werden. So können zentrale Bereiche der Persönlichkeit gleichsam einfrieren, erstarrt die Beziehungsfähigkeit, wird die Entwicklung von Beziehungen nachhaltig behindert. Das individuelle Leid des Kriegsheimkehrers, der Großmutter, die sexualisierte Gewalt erleiden musste, des gedemütigten oder immer wieder geprügelten Kindes – es sickert in das Familiensystem ein und schafft ein destruktives Muster von Bindung und Beziehung, das Generationen überdauern kann. Aus der erlittenen Demütigung wird Überheblichkeit, aus dem Beschämtwerden das Beurteilen, Verurteilen, Entwerten anderer. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer formuliert lakonisch: „Für die Praxis hat sich diese Arbeitshypothese bewährt: intensiv bewertende Familien sind traumatisiert.“

Bettina Alberti, Psychotherapeutin und Autorin des Kriegsenkel-Standardwerks „Seelische Trümmer“, erläutert, wie stark das Trauma der Kriegskinder als Eltern das Aufwachsen ihrer Kinder bestimmte: „Sie erlebten eine aggressive Aufladung der Eltern, wenn ihre kindliche Lebendigkeit sich zeigte und eine Antwort suchte. Die Begrenzung war für viele Kinder nicht einzuordnen, sie kam impulsiv, weil sie aus der Ladung der Traumaabwehr der Eltern entstand. Sie hatte eine Funktion für das seelische Gleichgewicht der Eltern und keinen eigentlichen Wert. ‚Wie du wieder rumläufst! Was tust du uns an! Must du uns Schande machen?‘ In solchen Sätzen ist die Verzweiflung traumatisierter Eltern spürbar, die sich schützen wollten vor einem Exponiertwerden.“

 

Das Trauma entzweit Beziehungen – zu uns selbst und zu anderen

Eindrucksvoll beschreibt die Autorin und Therapeutin Katharina Ohana in ihrem Buch „Ich, Rabentochter“ das Leben in einer solchen Familie. „Ich war mit dem Gefühl aufgewachsen, nicht gut genug zu sein, das war die einzig mögliche Erklärung für die Suizidgedanken meiner Mutter und die Gleichgültigkeit meines Vaters. Ich hatte die Welt durch diese Brille sehen gelernt und sie filterte auch weiterhin meine Sichtweise auf das Leben. Sie ließ nur Kritik und Fehler in meinem Blickfeld, jedes Lob, jedes erreichte Ziel blieb außen vor und verschwand im Schatten dieser Übermacht.“

Zahlreiche Studien belegen die Macht dieser Muster. Sie zeigen, wie stark sich die Begegnungen von Partnern, Eltern und Kindern generationenübergreifend ähneln, wie Einstellungen zu Erziehung, die Qualität von Ehen, Scheidungen, Kontaktabbrüche, Parentifizierung, Gewalterfahrungen und die Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung wiederholt und reinszeniert werden.

 

Das Trauma in Familie und Beziehung 

Auf persönlicher Ebene unterbindet das Trauma die Beziehung zum Ich und sabotiert die Beziehung zu anderen.

Thomas Hübl beschreibt die Auswirkungen auf unsere Beziehungsfähigkeit: „Trauma hebt die zwischenmenschliche Verbundenheit auf, es beschädigt unsere Fähigkeit, anderen zu vertrauen und uns mit ihnen verbunden zu fühlen.“ Und: „Trauma entzweit Beziehungen. Auf persönlicher Ebene unterbindet ein Trauma die Beziehung zum eigenen Ich und sabotiert die Beziehung zu anderen.“

Wie weit das gehen kann, lässt dieses Bekenntnis von Katharina Ohana ahnen: „Ich traute meiner Therapeutin lange nicht, ihre herzliche Anteilnahme schien mir zu unwahrscheinlich. Warum interessierte sich ein fremder Mensch, der mir nicht verwandt und verpflichtet war, mehr für mich als meine Mutter, glaubte mehr an mich als mein Vater?“ Das Misstrauen anderen Menschen gegenüber war zum bestimmenden Faktor im Kontakt mit anderen geworden.

So verharren wir in Beziehungen, die uns nicht guttun, weil sie dem Muster entsprechen, wie unsere Eltern mit uns in Kontakt gegangen sind. Dann sind wir der Überzeugung, dass es für eine Beziehung normal und angemessen sei, nicht gesehen zu werden, keinen Raum für eigene Bedürfnisse zu haben, andere nie enttäuschen zu dürfen, Zuwendung und Aufmerksamkeit ausschließlich als Gegenleistung für große Anstrengungen zu bekommen. Und als Erwachsene bleiben wir in diesen destruktiven Beziehungen, weil wir unbewusst in der kindlichen Bindungsbeziehung zu unseren Eltern gefangen sind.

 

Ist Heilung vielleicht nur ein glücklicher Zufall?

Halten wir einen Moment inne. Wie immer, wenn wir dem Trauma und seinen Ursachen Raum geben, ist die Verzweiflung nicht weit. Sie erzeugt einen Sog. Aber genau deswegen ist es Zeit, dass wir jetzt, nach diesem Blick in das Grauen entsetzlicher Kindheiten, den Blick wenden und uns fragen, wie Befreiung und Heilung möglich werden. Wie kann der Ausstieg aus Mustern gelingen, die unsere Familien womöglich seit Generationen prägen? Zumal wir es ja bei Beziehungen mit den unseligen Traditionen zweier Familien zu tun haben können. Geht das überhaupt? Kennen wir nicht jede Menge Beispiele von gescheiterten Versuchen? Die gibt es zweifellos. Aber hier zeigt sich auch die mitunter ziemlich stabile Problemorientierung, die in der Generation Kriegsenkel das Scheitern als Normalfall ansieht – und die Heilung als glücklichen Zufall. Aber gerade das ist sie nicht!

 

Oft suchen Traumatisierte gar nicht nach Hilfe

Tatsächlich gibt es klar benennbare Faktoren, die eine Heilung ermöglichen. Der erste und grundlegende ist der Wunsch danach. Es ist die Bereitschaft, sich für Heilung einzusetzen – der „Willen zum Wohlbefinden“, wie Christina Bethell, Professorin für Gesundheitswesen an der Johns Hopkins Universität, das nennt. Oft suchten Traumatisierte gar nicht unbedingt Hilfe. „Es gibt hier viele Abwehrreaktionen und gesundheitlich ungünstige Verhaltensweisen. Betroffene müssen sich schon bewusst den Dingen zuwenden, von denen bekannt ist, dass sie das persönliche Wohlbefinden fördern, darunter Meditation und Bewegung, aber natürlich auch Ernährung und Sport und andere grundlegende Dinge, die aufgrund einer Traumatisierung gern ins Hintertreffen geraten.“

Bethell betont: „Bewusstsein ist der erste Schritt – Bewusstsein gepaart mit Mitgefühl und dem Akzeptieren der eigenen Situation.“ Als Traumatisierte müssen wir wieder lernen, uns selbst, unsere Gefühle, unseren Körper, unsere Bedürfnisse, unsere Wünsche, unsere Liebe zu spüren. Dass wir all das so lange vermieden haben, war eine sinnvolle, womöglich überlebensnotwendige Schutzreaktion. Die wir nun freilich überwinden müssen, um wieder positive und heilsame Beziehungen eingehen zu können.

 

Bindung lernt man nur durch Bindung

 

Das Trauma in Familie und Beziehung 

Im echten Kontakt mit anderen Menschen können wir Bindung wieder erlernen.

In der Psychoanalyse wird auch dem Zulassen von Trauer eine große Bedeutung beigemessen. Luise Reddemann, Pionierin der Traumatherapie in Deutschland, erläutert, was das bedeutet: „Trauerarbeit heißt, Schmerzen der Vergangenheit zu akzeptieren und sich die Gegenwart als anders bewusst zu machen, soweit das möglich ist. Immer wieder aufs Neue gilt es, dass wir Vergangenes vom Gegenwärtigen unterscheiden. Dass wir Kindliches in uns beruhigen, wo es nötig ist, dass wir als erwachsene Menschen den Mut aufbringen das, was wir nie oder nicht genügend erhalten haben, zu betrauern.“ Dabei, sagt Reddemann, sollen uns darauf besinnen, dass wir es trotz aller Widrigkeiten geschafft haben, uns dem Leben zu stellen. Und: Wir sollen heute leben – statt die Befriedigung unerfüllter Sehnsüchte aus der Kindheit in der Gegenwart von anderen zu erwarten.

Damit dieser Prozess gelingen kann, brauchen wir dennoch andere Menschen. Die Traumatherapeutin Dami Charf betont die grundlegende Bedeutung der persönlichen Verbundenheit: „Bindung (…) lernt man nur durch Bindung. Man kann es sich leider nicht anlesen. Ich brauche ein Gegenüber, dass in der Lage ist, mit mir in Beziehung zu gehen.“ Das Beispiel von Katharina Ohana zeigt, wie eine Umkehr gelingen kann. Irgendwann hatte die Therapeutin, deren herzliche Anteilnahme ihr zunächst so unwahrscheinlich vorkam, eben doch das Vertrauen ihrer Klientin gewonnen und bewiesen, dass ihr Zuwendung kein Mittel zum Zweck war, sondern echt. Dass die Beziehung zwischen beiden verlässlich blieb, auch in schwierigen und belastenden Situationen. Studien zur Wirksamkeit von Therapie- und Coaching weisen nach, dass die persönliche Beziehung tatsächlich der wichtigste Wirkfaktor ist. Die Allianz zwischen Klient:in und Behandler:in macht den entscheidenden Unterschied, nicht die Methode.

 

In uns allen schlummert eine tiefe Sehnsucht nach Kontakt

In dieser Beziehung kann etwas sehr Grundlegendes Raum bekommen: unsere tiefe Sehnsucht nach einem Kontakt, in dem wir sein können, wie wir sind. Frühe Erfahrungen habe viele von uns gelehrt, diese Sehnsucht nicht fühlen zu wollen, ja zu dürfen. Aber wenn im Außen ein Hoffnungsschimmer entsteht, dann taucht sie wieder auf. Das ist der Impuls, der Heilung ermöglicht. Jetzt kann eine Art Pendelbewegung beginnen. Wir trauen uns ein wenig aus der Deckung, zeigen uns, wie wir sind, stellen uns damit unserer Angst vor Ablehnung und ziehen uns dann wieder zurück in die Sicherheit. Indem wir erleben, dass sich unsere Hoffnung auf eine heilsame Begegnung erfüllt, entsteht Vertrauen, und beim nächsten Mal wagen wir uns ein kleines Stück weiter hinaus, geben der Hoffnung mehr Raum, bevor wir uns erneut zurückziehen.

So entwickelt sich langsam ein größeres ‚Containment‘, eine Haltekapazität für emotionale Zustände. Wir müssen negative Gefühle nicht mehr ängstlich meiden, können mehr Hoffnung zulassen – ohne die bedrängende Angst, dass wir doch nur wieder enttäuscht werden und unter dem Schmerz kollabieren müssen. Wir richten uns auf, innerlich und äußerlich, heben den Blick, können tiefer atmen und entwickeln mehr Selbstvertrauen.

Das Trauma in Familie und Beziehung Nach der Heilung eines Traumas erwartet uns posttraumatisches Wachstum.

 

Nach dem Trauma erwartet uns das posttraumatische Wachstum

Wenn das Trauma bearbeitet wird, können wichtige Dinge geschehen: Wir gewinnen neues Vertrauen und neue Zuversicht, ein Gefühl für unsere eigenen Fähigkeiten und Ressourcen, entwickeln wieder Freude und Neugier, mehr Handlungsspielraum und Selbstwirksamkeit. Das Bewusstsein dafür, dass wir das Trauma überwunden und integriert haben, vermittelt uns ein neues Gefühl von Stärke. Was wir einst unter dem Trauma als Verlust erlitten haben, gewinnen wir nun zurück. Und all das nennen wir posttraumatisches Wachstum.

All dies geschieht zunächst auf der individuellen Ebene. Im therapeutischen Kontext, in Coachings, in Selbsthilfegruppen. Was ich in vielen Seminaren erlebe: die heilsame Wirkung, dass die anderen Teilnehmenden nicht die Stirn runzeln, wenn aus bedrängten Kindheiten oder schwierigen Beziehungen erzählt wird. Viel häufiger ist da ein Erkennen im Gesicht zu sehen: „Du erzählst ja meine Geschichte …!“ Wir erleben Verständnis, immer mal wieder fließen Tränen, und niemand erhebt sich darüber. Der Schmerz ist ja allen nur zu gut bekannt.

 

„Wir sagen: Zeigen Sie Ihre Verletzung!“

In Beziehungen und Familie sieht das freilich oft ganz anders aus. Hier sind die Muster eingespielt, nicht selten verhärtet. Wie aber kann der Bruch damit gelingen, eine Öffnung, ein Neubeginn, zumal wenn die destruktiven Gewohnheiten schon seit Generationen bestehen?

Indem eine/r nicht mehr mitmacht. Das kann schwer sein, weil die Loyalität zu unserer Familie auf einmal in Frage steht. Dennoch: Darüber zu sprechen, was uns verletzt, was uns behindert, was uns fehlt, was wir uns wünschen, ist der einzig mögliche Weg. Das Trauma nicht mehr verdrängen, sondern in den Kontakt holen! Ich möchte an dieser Stelle noch einmal Gabriele Frick-Baer und Udo Baer ausführlich zitieren, weil sie so eindringlich formulieren.

„Wir sagen: Zeigen Sie diese Auswirkungen auf die Beziehung! Zeigen Sie Ihre Verletzung! Wenn Sie Ihre eigene Verletzung und Verletzlichkeit verbergen, wird sich nie etwas ändern. Vielleicht kann der Vater, die Mutter, vielleicht können die Großeltern ihr Verhalten nicht ändern, aber sie können zumindest sagen, dass es ihnen leidtut und sich vielleicht um eine Veränderung bemühen. Zumindest birgt es für Sie eine Chance, nicht weiter ins Leere zu gehen, sondern in Ihrer Verletzlichkeit und Verletzung ernst genommen zu werden. Wenn dies nicht gelingt, wenn Sie auch damit, dass Sie Ihre Verletzung zeigen, nicht wahrgenommen und ernst genommen werden, dann suchen Sie andere Menschen, denen Sie im lebendigen Kontakt begegnen können. Setzen Sie dem Trauma in Ihrer Familie und in Ihren anderen Beziehungen Ihre eigenen Erfahrungen, Ihre eigene Lebendigkeit entgegen.“ (aus: „Kriegserbe in der Seele“)

 

„Das Schicksal ist eine Aufgabe“

Dasselbe gilt für den Kontakt zu Partnerin oder Partnern, Geschwistern und Kindern. Und es gilt natürlich auch für uns selbst: dass wir wahr- und ernstnehmen, wenn andere uns ihre Verletzungen zeigen. Aus persönlicher Erfahrung: Es ist keine schlechte Idee, sich dabei erst einmal therapeutisch begleiten zu lassen.

Es ist an der Zeit. Noch einmal Katharina Ohana, die schreibt: „Wir sind nicht mehr so richtig jung, doch alt sind und fühlen wir uns auch noch nicht: Jetzt ist noch Zeit etwas zu ändern. Die Wiederholungsmuster sind längst offensichtlich. Und wer nicht den Rest seines Lebens an die fremdbestimmenden Mächte in seinem Unbewussten verlieren will, der schaut sich spätestens jetzt an, warum sich so viele Sehnsüchte unerfüllt aufgestaut haben.“

Irgendwann nütze es nichts mehr, die widrigen Umstände von Herkunft, Kindheit und Jugend anzuklagen, resümiert Ohana. „Ab einem bestimmten Punkt der Trauer verschluckt das ganze Warum-ich nur noch neue ungenutzte Lebenszeit. Das Schicksal ist eine Aufgabe.“

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