Versöhnung mit meiner Biografie
Meist verläuft das Leben nicht so ideal, wie man es sich ausgemalt hat. Muss man es deshalb gering schätzen? Biografiearbeit kann Frieden bringen – und neue Perspektiven für die Zukunft öffnen.
Wer bin ich, wo komme ich her und was will ich eigentlich von meinem Leben? In unserer Zeit, in der wir uns ständig neu erfinden sollen und Traditionen wenig gelten, werden diese drei Fragen immer drängender. Bei den Antworten darauf hilft Biografiearbeit. Sie unterstützt die Festigung unserer Identität, die Bilanzierung unseres bisherigen Lebens. Welche Linien erkenne ich, welche sind vielleicht abgerissen – und warum? Was habe ich vernachlässigt? Gibt es eine Ressource, an die ich anknüpfen kann?
Häufig sind es typische Punkte unserer Lebenslinie, an denen wir zurückschauen: in Phasen der Krise und Neuorientierung, beim Erkunden von Familiendynamiken und Familiengeschichte sowie im Alter, als Bilanz eines gelebten Lebens. Gibt es noch etwas, das zu erledigen ist? Die Reflexion unserer Biografie dient dazu, Gegenwart zu verstehen und Zukunft zu gestalten. Das Ziel ist die Stärkung der Persönlichkeit.
Eine Lebenserzählung, die mich trägt
„Biografiearbeit öffnet den Weg zur Versöhnung mit dem eigenen Lebensweg“, sagt Thomas Schollas, systemischer Therapeut und Vorsitzender des Fachverbandes für Biografiearbeit, kurz FaBia. „Wenn ich merke, dass ich an einem Wendepunkt angekommen bin, hilft es, mir meiner Biografie bewusst zu werden. Am Ende soll eine Lebenserzählung stehen, die plausibel ist und mich trägt.“
Dabei berührt Biografiearbeit in Deutschland praktisch immer Themen wie Krieg, Verfolgung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Flucht und Vertreibung und die persönliche Verstrickung darin. Diese Aktualität wurde nicht zuletzt auf der Tagung „Biografische Erbschaften“ deutlich, von der Universität Siegen im vergangenen September in Kooperation mit FaBia veranstaltet (über diese Tagung habe ich einen weiteren Blogbeitrag verfasst: „Unsere biografischen Erbschaften“)
Deutschland, eine posttraumatische Gesellschaft
„Deutschland ist eine posttraumatische Gesellschaft“, sagte die Düsseldorfer Psychoanalytikerin Elke Horn in ihrem Vortrag, und die Zahlen dazu lieferte Andreas Maercker, Professor für Psychotraumatologie an der Uni Zürich: Mehr als die Hälfte aller Deutschen über 66 Jahre leiden unter einem Trauma, zumeist kriegsbedingt, bei den über 75jährigen sind es sogar mehr als zwei Drittel. Bei ihnen, sagte Maercker, zeige der therapeutische Lebensrückblick viele positive Wirkungen. „Wir stellen für jede Lebensphase drei Fragen: nach einem positiven Lebensereignis, nach einem negativen und nach einem Erlebnis, in dem ein Problem gut bewältigt werden konnte.“ Im Ergebnis der Therapien besserten sich schon im Verlauf von drei Monaten Depressionen, Selbstwert, Wohlbefinden sowie der Erinnerungs- und Erzählstil.
Biografiearbeit steigert Selbstwert und Wohlbefinden, lindert Depressionen
Bemerkenswert: Das gelingt sogar online. Maercker zitierte eine Patientin: „Mir ist in der Therapie aufgefallen, dass es mir extrem gut getan hat, die verschiedenen Stationen meines Lebens zu beschreiben, und ganz wichtig dabei war, von den Menschen zu erzählen, mit denen ich herzlich verbunden bin. Das ist in meinem Leben eine Schatztruhe, zu der ich mich immer dann wieder begeben kann, wenn ich meine, alles sei damals kaputt gegangen. Diese Übungen haben mir deutlich gemacht, dass die Freundschaften die wichtigste Sache auf der Welt sind.“
Vielfalt der Methoden und Ansätze
Der bevorzugte Rahmen dafür ist die Gruppe. Individuelles lässt sich besser in den Kontext der Gemeinschaft einbetten, und die Assoziationen sind zahlreicher: „Jetzt, wo du das sagst …“ Seminare, Workshops, Gruppenarbeit, Einzelgespräche: Biografiearbeit ist nicht im eigentlichen Sinne eine Methode, sondern ein pädagogischer Ansatz. Wer sich auf www.lebensmutig.de, der Internetseite von „LebensMutig – Gesellschaft für Biografiearbeit e.V.“, umschaut, findet eine Fülle höchst unterschiedlicher Angebote. Interessant gerade auch für Kriegsenkel der ressourcenorientierte Ansatz „My Life Storyboard“ von Ingrid Meyer-Legrand, Autorin des Buches „Die Kraft der Kriegsenkel“.
Haben Sie Interesse an Biografiearbeit? Dann schreiben Sie mir doch eine Email oder rufen mich an. Ich plane eine Gruppe für Biografisches Schreiben.
Einsteiger-Seminar Kriegsenkel: Am 24.2.2018 leite ich ein Seminar zum Thema Kriegsenkel. Darin wird es auch um Biografiearbeit gehen. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.
Dieser Text ist eine Zusammenfassung eines Dossiers, das ich für PSYCHOLOGIE HEUTE geschrieben habe.
Foto: Thinkstock, kcslagle
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