Gespräch mit Ingrid Meyer-Legrand, Therapeutin und Coach, über ihr Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“ und die große Aktualität des Themas
Frau Meyer-Legrand, wie sind Sie auf das Thema „Kriegsenkel“ gestoßen?
Ingrid-Meyer-Legrand: Ich habe viele von ihnen in meiner Praxis als Therapeutin und Coach erlebt. Aber bis Anfang der 2000er Jahre konnte sich niemand die Problematik so recht erklären, warum viele Menschen der Jahrgänge von 1960 bis etwa 1975 immer wieder ihre Beziehungen beenden oder ihre Arbeitsstellen wechseln, um rastlos ständig neu anzufangen und sich fragen, wie sie endlich ihren Platz finden können.
Und das ist eine Kriegsfolge, die sich im Familiensystem abbildet?
Ja, weil sich viele vor dem Hintergrund der schlimmen Erlebnisse von Vater und Mutter fragen sich: Bin ich es überhaupt wert, Erfolg zu haben? Bin ich es wert, in einer Beziehung zu leben oder eine Familie zu haben? Darf ich erfolgreicher sein als mein Vater oder meine Mutter, denen dazu die Möglichkeit fehlte? Es wirkt auch nach, wenn ein Angehöriger im Krieg oder auf der Flucht gestorben ist. Dann entsteht eine Lücke in der Familie und wenn hier nicht hingeguckt wird, kann auf diese Weise die Familiendynamik völlig aus der Balance geraten, ohne dass jemand versteht, was eigentlich passiert.
Was beklagen die Kriegsenkel konkret?
Dass sie besetzt waren von etwas, das sie nicht verstanden haben, weil darüber nicht gesprochen wurde. Dass Vater oder Mutter einen Bruder oder eine Schwester verloren haben. Dass die eigene Mutter vergewaltigt wurde. Erst mit der Bezeichnung „Kriegsenkel“ hat das Ganze einen Namen für dieses Gefühl, von irgendetwas besetzt zu sein, bekommen. Erst dann haben viele begriffen, wovon sie gelähmt waren, wovon sie eingeschränkt waren.
Wie zeigt sich das im Alltag?
Ein typisches Thema ist das der Gestaltung von Beziehungen. Viele Menschen dieser Generation haben große Mühe, Nähe in Beziehungen herzustellen. Sie waren ja die Eltern ihrer Eltern aufgrund dessen, dass diese traumatisiert waren. In diesen Beziehungen haben sie immerzu leisten und sich selbst zurückstellen müssen. Das hat Auswirkungen auf die aktuellen Beziehungen, auch zu ihren Kindern. Diese Fragen sollten uns deshalb heute weiter bewegen: Wie können wir Beziehungen eingehen? Was bringen wir unseren Kindern bei? Oder auch: Folgen wir immer noch Glaubenssätzen aus der Kriegszeit, die heute überhaupt nicht mehr angemessen sind? Etwa: »Probleme muss man mit sich selbst ausmachen.« Oder: »Wenn einem etwas ganz kostbar ist, wird es einem im nächsten Moment wieder weggenommen.« Darin steckt ja die vielfache Verlusterfahrung der Kriegskinder-Eltern.
Warum wirken diese Kriegsfolgen überhaupt so lange?
Weil das, was die Kriegskinder-Eltern im NS, Krieg und auf der Flucht erlebt haben, sich in ihrem Verhalten gegenüber ihren Nachkommen – also den Kriegsenkeln – bis heute zeigt, etwa in Form von bestimmten Leit- und Glaubenssätzen. Ihr Verhalten lässt sich häufig nur verstehen, wenn man deren (Kriegs-) Erfahrungen mitdenkt. Diese Verhaltensmuster haben sie an ihre Nachkommen weitergegeben. Und wenn sie nicht reflektiert werden, dann setzt sich das, was wir transgenerationelles Erbe nennen, einfach fort. Wir sollten uns bewusst machen, ob wir authentisch reagieren oder weiterhin wie besetzt aus der Kriegsgeschichte heraus. Damit wir die Weitergabe dieser Traumata an die nächste Generation unterbrechen.
Das ist die Gefahr: dass wir unsere Kinder in dieselbe Dynamik hineinziehen?
Ja, all das ist nicht vorbei. Wir haben auch in der nächsten Generation damit zu tun. Wir dürfen nicht aufhören zu reflektieren, was wir tun, wie wir etwas tun, wie wir Beziehung aufnehmen und gestalten. Da liegt noch eine wichtige Aufgabe. Die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs reichen in unsere Zeit hinein. Und wenn wir aufhören uns darum zu kümmern, dann wirken sie auch in künftige Zeiten hinein.
In Ihrem Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“ betonen Sie die Stärken dieser Generation. Worin bestehen sie?
Wir sehen Kriegsenkel einerseits verzweifelt und latent unzufrieden. Viele hadern im fortgeschrittenen Lebensalter mit dem Ergebnis ihrer Lebensleistung. Sie meinen viel bewegt, aber trotzdem nichts erreicht zu haben. Tatsächlich sind sie aber auch mutig ihren eigenen Weg gegangen, von einem starken Autonomiebestreben und dem Wunsch nach Individualität geprägt. Viele übersehen, wie mutig sie dem Zeitgeist gefolgt sind und ein Langzeitstudium dafür genutzt haben, alternative Projekte aus der Taufe zu heben, den örtlichen Frauenbuchladen etwa oder das erste Autorenkino am Ort. Dieses Hin- und Herpendeln als eine Suche nach sich selbst, nach dem Sinn des Lebens und danach, den eigenen Weg zu erkennen – darum geht es den Kriegsenkeln. Darin zeigen sie große Kompetenz. Viele sind auch mit 50, 60 Jahren noch nicht da angekommen, wo sie im Leben hinwollen. Aber die Kriegsenkel sind es gewohnt, den längeren Weg nach Hause zu nehmen.
Foto: Anke Mouni Meyer