Schreibend dem Sinn des Lebens auf der Spur
Den Roten Faden entdecken, den tieferen Sinn – in der Biografiearbeit und im autobiografischen Schreiben finden wir zu uns selbst.
Vor einigen Jahren schrieb ich die Biografie einer alten Dame. Ruth Rupp heißt sie und war bereits 90 Jahre alt, als ich sie anlässlich einer Reportage kennenlernte. Eine faszinierende Frau, 1926 geboren, nur 1,42 Meter groß, mit weißem Pagenkopf und einer überraschend tiefen Stimme. Es war zum Staunen: Als sie zur Schule kam, war Hitler noch nicht an der Macht, als Deutschland in Trümmern versank, stand sie an der Flugabwehrkanone. Sie erlebte den Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder, die Studentenproteste und die Wiedervereinigung und den Beginn des dritten Jahrtausends.
Sie erzählte lebhaft davon mit gutem Gespür für Anekdoten und Pointen. Und für die überraschenden Wendungen. Schließlich war sie schon 77, als kein Geringerer als Ulrich Tukur sie zu späten Triumphen auf die Theaterbühne an der Hamburger Reeperbahn holte. An seiner Seite startete sie in der „Dreigroschenoper“ ihre Karriere. Heute, mit 96 Jahren, tritt sie immer noch auf: als älteste Sängerin des Chors mit dem wunderbaren Namen „Heaven can wait“ (man muss mindestens 70 sein und wirklich gut singen können, wenn man das Casting bestehen will).
Ein tieferer Sinn offenbart sich
Es braucht Zeit, um nur die wichtigsten Erlebnisse aus neun Jahrzehnten einzusammeln. Vier Monate lang trafen wir uns einmal pro Woche, dienstags für eineinhalb Stunden. Danach war sie erschöpft. In der zweiten Phase unserer Treffen las ich ihr, wieder dienstags, jeweils ein Kapitel der Geschichte vor, die ihr Leben ist. Es gab Augenblicke von besonderer Klarheit: wenn auf einmal ein neuer roter Faden auftauchte, der Erlebnisse miteinander verband, die Jahrzehnte auseinander lagen. Dann hielt sie inne und wurde still. In der nächsten Woche, das wusste ich, würden wir auf das Thema zurückkommen.
Ein tieferer Sinn hatte sich offenbart.
Wie sie immer wieder verlorenen Seelen einen schützenden Raum der Entwicklung geboten hatte: als Muse eines kriegsversehrten Pianisten, als liebevolles Kindermädchen in den Haushalten wohlhabender Hanseaten. Und wieviel sie der heilenden Kraft der Musik zu verdanken hat. Ihr Mentor Ulrich Tukur fand die Worte dafür: „Das Leben treibt so seltsam wesenlos an uns vorbei. Nur wenn wir eine Form dafür finden, eine Sinfonie, ein Lied, ein Gemälde, ein Gedicht, ein Theaterstück – nur dann haben wir die Möglichkeit, das Leben ein wenig besser zu verstehen, seine Essenz in eine schöne Form zu fassen. Wenn uns das gelingt, ist es ein tiefes spirituelles Erlebnis.“
Das Leben kommt zu sich selbst
Jede Biografie hat diese Wendepunkte und Wegmarken, die aus zahllosen Erlebnissen herausragen. Manchmal bemerken wir sie unmittelbar, oftmals erst in der Rückschau. In diesen kostbaren Momenten kommt das Leben gleichsam zu sich selbst. Und Biografiearbeit ist ein gutes Hilfsmittel, ihnen auf die Spur zu kommen.
Ob Autobiografie oder Roman – gemeinsam mit anderen den Weg zum eigenen Buch gehen
Im professionellen Kontext ist sie ein pädagogischer Ansatz, relevant in der Jugendhilfe, vor allem in der Arbeit mit Adoptiv- und Pflegekindern, in der Sozialarbeit, der Erwachsenenbildung und der Arbeit mit alten Menschen. Das Spektrum reicht vom „Erzählcafé“, in dem Jugendliche ältere Menschen zu ihrem Leben befragen, über Wochenend-Workshops bis zu Gruppen, die sich über einen längeren Zeitraum treffen und ihre Erinnerungen aufschreiben.
Biografiearbeit aktiviert Selbstheilungskräfte
Aber im Grunde genommen findet Biografiearbeit immer dann statt, wenn die Ereignisse eines Lebens strukturiert wahrgenommen werden. Also womöglich auch im Coaching oder in der Gesprächstherapie. Tatsächlich aktiviert die erzählende Beschäftigung mit dem Leben unsere Selbstheilungskräfte. Und dabei sind vier Faktoren wirksam, wie die Psychoanalytikerin Brigitte Boothe in ihrem Buch „Das Narrativ“ [1] erläutert.
Aktualisierung: Jeder, der erzählt, vergegenwärtigt sich seines Lebens. Man ist in eine Kontinuität eingebunden, es gibt einen „Faden vom Hier und Jetzt zum Dort und Damals“, wie Boothe es nennt. Dieses Dort und Damals kann eine „funkelnde Gegenwärtigkeit“ bekommen.
Bewältigung: Die in der Psychologie bekannteste Wirkung des Erzählens. Viele Menschen wollen belastende Erlebnisse erzählen, um eine Struktur zu entwickeln, mit deren Hilfe es schließlich gelingt, ihnen einen angemessenen Platz in ihrem Inneren zu geben. Das Erzählen lässt sie die Gefühle miterleben, und diese Konfrontation ermöglicht die Emotionsregulation.
Wunscherfüllung: Das sei „eine lustige Sache“, sagt Brigitte Boothe. „Durch das Erzählen gestalte ich mir die Welt so, dass meine Wünsche ein wenig mehr bedient werden – meistens, ohne es zu merken. Und wenn mir diese Geschichte geglaubt wird, hilft mir das sehr, dass sich meine erlebte Wirklichkeit der annähert, die ich mir wünsche.“
Schließlich die soziale Integration: Wir bringen uns als Individuum in die Gemeinschaft ein, werden erzählend erkannt und bekommen die Bestätigung, dass andere uns unsere Erzählung abnehmen. Deswegen ist Biografiearbeit in der Gruppe so wirkungsvoll, im direkten Kontakt mit anderen, die ebenfalls einen neuen Zugang zu ihrer Geschichte suchen. Alleine das Erlebnis, dass jemand erst neugierig fragt und dann geduldig zuhört, macht die gemeinsame Arbeit zu etwas Besonderem.
Gegenwart verstehen, Zukunft gestalten
Eine wichtige Erkenntnis der Psychoanalytikerin: „Es ist Menschen fast unmöglich, komplett negativ von und über sich zu erzählen. Sie finden immer wieder ein Eckchen der Geschichte, in dem sich etwas Positives, Liebenswertes findet.“ Leuchten wir ausführlicher in dieses Eckchen hinein, tauchen häufig Erfahrungen, Fähigkeiten oder Ressourcen auf, die Erlebnisse in einem anderen Licht dastehen lassen. So dient die Reflexion der eigenen Biografie dazu, Gegenwart zu verstehen und Zukunft zu gestalten. Der Sinn, den wir retrospektiv entdecken, kann von nun an in unsere kommenden Entscheidungen einfließen.
„Biografiearbeit öffnet den Weg zur Versöhnung mit dem eigenen Lebensweg“, sagt Thomas Schollas, systemischer Therapeut und Vorsitzender des Fachverbandes für Biografiearbeit, kurz FaBia. „Wenn ich merke, dass ich an einem Wendepunkt angekommen bin, hilft es, mir meiner Biografie bewusst zu werden. Am Ende soll eine Lebenserzählung stehen, die plausibel ist und mich trägt.“ Denn Erinnerungen und Gedächtnis sind eng mit der persönlichen Identität verbunden. Wir sind, was wir erinnern.
Versöhnung mit dem eigenen Lebensweg
Im Zentrum stehen dabei die Bedeutungen, die wir Erlebnissen beimessen. Zeigen sie unsere Fähigkeiten oder Defizite, Freude oder Leid, Erfolge oder Erfahrungen des Scheiterns? In der sogenannten Lebensrückblicktherapie, die der Psychologe Andreas Maercker entwickelt hat, werden gezielt alle Aspekte aktiviert. Maercker, Professor an der Universität Zürich, erläutert: „Wir stellen für jede Lebensphase drei Fragen: nach einem positiven Lebensereignis, nach einem negativen und nach einem Erlebnis, in dem ein Problem gut bewältigt werden konnte.“
Maercker und seine Kolleg:innen nutzen diese Methode gezielt zur Behandlung von Depressionen – mit erstaunlichem Erfolg. Allein mithilfe des angeleiteten Erzählens bessern sich im Verlauf von drei Monaten Selbstwert, Wohlbefinden sowie der Erinnerungs- und Erzählstil, werden Depressionen genauso gelindert wie durch die Einnahme von Psychopharmaka.
Nach einem Umweg bei sich selbst ankommen
Abseits der Therapie ist der positive Effekt ebenso spürbar. In vielen Seminaren für autobiografisches Schreiben habe ich diese Art des Lebensrückblicks selbst angeleitet. Die Teilnehmer:innen waren nicht selten verblüfft. Was sich vorher darstellte als Nach- und Nebeneinander willkürlicher Entscheidungen, Erfahrungen von Scheitern oder Ausgeliefertsein, sortierte sich zu dem, was wir den sprichwörtlichen Roten Faden nennen. Ein tieferer Sinn wurde spürbar. Nicht selten waren es gerade die negativen Erlebnisse, die sich als wichtige Wendepunkte herausstellten. Oder, wie eine Teilnehmerin staunend sagte: „Nach einem langen Umweg bin ich wieder bei mir selbst angekommen.“
Auch in Ruth Rupp erlebte ich eine Frau, die mit sich im Reinen war. Immer wieder in unseren Gesprächen gab es dieses „Was wäre gewesen, wenn …“, und dann sagte sie voller Verve: „Natürlich hätte ich heiraten und Kinder bekommen können, ein typisches Leben haben wie viele Millionen Frauen meiner Generation – aber was hätte ich alles verpasst?!“
„Und es hatte alles seinen Sinn!“
Und es schien eine Weisheit auf, die wohl dem hohen Alter vorbehalten ist. Etwa, wie sie die acht Jahre Pflege ihrer dementen Mutter in der gemeinsamen Zwei-Zimmer-Wohnung reflektierte. „Das war ein großes Glück für meine Mutter, aber auch für mich“, sagte sie. Acht Jahre am Rande der eigenen Kraft – ein großes Glück? Ich lernte, wie in der Bilanz eines Lebens eine Zeit auf die Haben-Seite kommen kann, weil eine wichtige Aufgabe gemeistert ist: der geliebten Mutter ihre letzten Jahre in umsorgender Nähe zu schenken. Nicht weglaufen, sondern sich einlassen und hingeben – so hat Ruth Rupp es immer gehalten.
Und so erzählte sie davon. Die schönen Geschichten fröhlich und detailreich, die traurigen in aller Kürze. Auch so formt sich Erinnerung. Mit ihrer tiefen Stimme, die so gar nicht zu der kleinen Frau zu passen scheint, resümierte sie: „Wenn ich vorher gewusst hätte, was auf mich zukommt, hätte ich behauptet: Das schaffst du nicht. Dann habe ich’s aber doch geschafft. Und es hatte alles seinen Sinn. Ich würde es genauso wieder machen.“
[1] Brigitte Boothe: Das Narrativ. Biografisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess. Stuttgart 2011
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